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Judasfall eines Drachen

Teil 13/4.1 Schicksalsgeschichten
von

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Chapter 1 - 5

Okay, ich geb’s zu … es ist mal wieder nicht wie angekündigt endlich der letzte Teil. Ich selbst war ja willig, aber die süßen Menschen hinter den Emailadressen haben mich ihre liebevolle Ungeduld spüren lassen, sodass ich die „Schuld“ über den abermaligen Wortbruch somit gern weiterreichen möchte. Nämlich vor allem an die Damen aus dem Drachenzirkel, die mich mit Anfeuerungs- und Bestärkungsmails am Leben gehalten haben. Gelebt habe ich das letzte Jahr fast ausschließlich im und fürs Büro – ich weiß kaum noch, wofür ich überhaupt Miete bezahle, wenn ein Bett im Büro eigentlich sinnvoller wäre und ich dabei nicht so viel Gehalt bekomme wie ich verdiene. Aber dafür habe ich fast den gesamten Februar frei, um meinen „alten“ Urlaub AM STÜCK abzubauen … das kann ja nicht gut sein, wenn man nachts nur noch von Kollegen, Chefs und Firmengebäuden träumt. @_@ Den Urlaub habe ich wohl auch nur wegen meines Gejammers so am Stück bekommen. Schwafel schwafel schwafel, was wollte ich noch gleich sagen? Ach ja, die Damen des Drachenzirkels. Ihnen ist es zum Großteil zu verdanken, dass ich nochmals eine kleine Grauzone habe. Deshalb bekommt ihr hier quasi den Letzten Teil Teil Eins. Also 13-4.1 (der letzte wird dann 13-4.2 – das ist die Fan-Idee des Jahrhunderts – tausend Gnuutsis dafür! ^^). Deshalb wundert euch bitte nicht, wenn auf den nächsten 681 Seiten Themen aufgeworfen und nicht abschließend geklärt werden – ich verspreche, dass das alles am Ende einen Sinn ergibt … na ja … mehr oder weniger … ihr seid eben wie gewohnt zum Mitdenken aufgefordert. T_T
 

Bevor ihr nun zu lesen anfangt, möchte ich euch sagen, dass ihr hier die Animexx-Version erwischt habt und nach den neuen Regeln sind Autorenkommentare verboten. Deshalb darf ich euch leder weder auf **Tripples** noch auch **Prophezeiungen** noch auch **besonders sinnfreie Textstellen** hinweisen. Wenn ihr das Original mit meinem Gesülze haben möchtet, klickt euch auf www.yaoi.de ein und ladet dort das txt runter. Wahlweise schreibt mir eine Mail an masamume@web.de und ich schicke euch das Original mit den schönen Sternchen. XD Ihr würdet mir damit sogar eine Freude machen. ^^
 

Vorsicht Spoiler Anfang

Weiterhin möchte ich euch zwei neue Charas vorstellen, die mir schon jetzt ans Herz gewachsen sind (die haben sich so zwischen Herz, Lunge, Milz und Leber gedrängelt) und ich hoffe, ihr liebt sie genauso. Nämlich Mokubas wahren Doppelgänger - den „lieben“ Tjergen (ich habe mir ein Fitnessstudio **Tripple** angesehen und der sexy Trainer hieß Tjorge oder so ähnlich. Der hatte zwar mit „meinem“ Tjergen null Ähnlichkeit, aber irgendwie hatten meine Musen mal wieder gekifft … angemeldet habe ich mich dann aber nicht, weil der Kerl zu viel Geld verlangt hat – insofern hat er mit Tjergen doch was gemeinsam).

Und wie aus dem Nichts kommt ein noch namenloser kleiner Falke geflattert, dessen „Identität“ ihr dann im nächsten Teil enthüllt bekommt (raten ist wie immer erlaubt und herzlich willkommen – mal sehen, ob ihr auf seine Bedeutung kommt).
 

Auf Leserwünsche bin ich natürlich wie immer auch eingegangen. Wenn ich es so genau bedenke, seid eigentlich ihr alle schuld, dass ich auf dem Weg zum Ende immer wieder auf Abwege geführt werde. Alles eure Schuld! ^^’ Ich habe mich mal etwas um Sethan gekümmert und noch ein Rätsel mehr aufgegeben, welches sich am Ende (von 13-4.2) aber auch von selbst erklärt (im Kern seine verschrobene Bitte: „Ich liebe dich und doch bitte ich dich: Liebe mich nicht“). Und die Sache mit Marik … es tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen. XD Und Tato geht’s auch besser. Ich wollte ihn zwar noch etwas leiden lassen, aber weil sich so viele einen Neuanfang für ihn gewünscht haben, bin ich doch eingeknickt. *knacks* Und ein bisschen Lemmon für meine Kommischweinchen gibt’s natürlich auch. Besonders Moki/Noah war nachgefragt und ich hoffe, die betreffenden Seiten können euch befriedigen oder wenigstens süchtig machen. Eben öfter mal auf zu neuen Ufern. XD

Entwarnung Spoiler Ende
 

So, nun ist aber genug gespoilert, entschuldigt und geschwafelt. Ich hoffe, ihr erinnert euch noch an den Inhalt und bleibt noch etwas bei der Stange. Es geht zu Ende. Ich verspreche es. Ich schreibe auf das Ende zu solange meine Finger tippen können. Wobei ich hoffe, dass sie es nach dem hoffentlich letzten Teil auch noch können. ^^’
 

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Judasfall eines Drachen

Teil 4.1: Schicksalsgeschichten
 

Chapter 1
 

Der Hochsommer hatte die Stadt in seinem brennenden Griff und so war man froh über jedes Stückchen Schatten. Wenn man denn eines fand. Im Haus war es kaum auszuhalten, jedenfalls solang man keine Nordseite bewohnte oder eine Klimaanlage besaß. Und draußen scharten sich die Menschen in den Eiscafes, den Schwimmbädern oder im Park. Jeder schattige Platz erfreute sich größter Beliebtheit. Und so auch die Terrasse vor der Herberge und der Garten auf der Rückseite. Neben den normalen Gästen hatten sich die Dauerbewohner auch dort ihre Liegestühle und Sonnenschirme gesichert. Die Kinder spielten natürlich lieber auf dem Spielplatz an der Rückseite, doch dafür war es vor dem Haus aufgrund der Nordseite Sonneneinfalls kühler. Eine wahrlich schwere Entscheidung, wo man sich denn nun hinsetzen sollte - vorausgesetzt man war kein Spielplatzfan.

„Mann ey“ moserte Mokuba, der herauskam und sich zu Tristan und Marie auf die kühlere Terrasse setzte. Oder besser plumpste, denn er ließ sich mit langem Gesicht auf seinen Stuhl fallen, bevor er nach den Zigaretten langte.

„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ guckte Marie ihn an.

„Nichts“ murrte er und zündete die Kippe an. Manchmal konnte er trotz aller Unterschiede genauso mürrisch aussehen wie Seto.

„Unsinn, man sieht doch, dass dir irgendwas nicht passt.“

„Tut es auch nicht!“ schimpfte er und knallte das Feuerzeug auf den Tisch. „Ich habe uns extra einen Swimmingpool gekauft und jetzt plantschen da die Nachbarskinder drin. Von wegen in Ruhe abkühlen und chillen. Nix da! Ich will zurück nach Domino in meine Villa ohne Nachbarn, in meinen Pool ohne Nichtschwimmer. Jetzt weiß ich auch, warum Seto damals eine Villa mitten ins Niemandsland gesetzt hat.“

„So ist das eben“ meinte Tristan und schaute über seine Sonnenbrille hinweg. „Dein Sohn badet da doch sicherlich auch drin.“

„Das ist ja auch meiner. Aber da sind mindestens fünf oder sechs Kinder, die ich gar nicht kenne. Und wenn ich die rausschmeiße, bin ich gleich als Kinderhasser verschrien. Davon abgesehen, springen die so oft wieder rein, dass das Wasser schon voller Gras ist.“

„Freu dich doch, dass Dante so gut Anschluss bei anderen Kindern findet.“

„Kann er ja auch gern. Aber nicht in MEINEM Pool.“

„Hat den nicht Noah bezahlt?“

„ICH habe ihn gekauft.“

„Aber nicht bezahlt.“

Nein, das hatte er nicht. Darauf konnte Mokuba nicht viel entgegnen. Außer: „Ich hoffe, die Mücken stechen dich tot, Taylor.“

„Die stechen lieber Nika. Sie hat süßeres Blut“ schmunzelte Tristan und widmete sich lieber seinem kühlen Bierchen. Dass der neue Pool bald in Kinderhand landen würde, war doch eigentlich klar. Es war so heiß und ihre Kinder freundeten sich schnell mit anderen an. Okay, Feli aufgrund ihrer Schüchternheit nicht so sehr, aber Nini nahm sie einfach an die Hand und integrierte sie. Und wenn bei diesem heißen Wetter auch noch eine Plantschgelegenheit geboten wurde, trudelten eben auch schnell die Nachbarskinder ein. Letztlich war die Wiese noch immer Teil der Gaststätte und mit Sandkiste und Schaukel schon immer von Kindern besetzt. Die interessierte es auch wenig, ob der Cousin vom Pharao da seinen mobilen Pool für sich allein haben wollte.

„Wo sind die anderen?“ wollte Mokuba wissen. Hier saßen nur Marie und Tristan und auf der anderen Seite saßen auch nur Nika und Tea, welche auf die Kinder aufpassten. Da fehlte ein Großteil an Leuten.

„Joey und Noah sind im Büro. Und Narla ist dort auch hin, um Papa Joey zu besuchen“ überlegte Marie und streichelte ihren dicken Bauch, auf dem sich schon kleine, lebendige Beulen bewegten. „Mokeph ist spazieren, Sari und Tato sind mit den Zwillingen ins Aquarium gefahren und Dakar ist … weiß ich gar nicht, wo der ist. Ich habe ihn nur weggehen sehen, bevor ich mich hergesetzt habe.“

„Um den würde ich mir keine Sorgen machen“ meinte Tristan. Der große Dakar konnte gut auf sich aufpassen und wenn er verschwand, musste das nichts heißen.

„Komisch finde ich es, dass Mokeph spazieren geht. Das macht er nie“ grübelte Mokuba. „Hat er was gesagt?“

„Er hat gesagt, er geht mal ne Weile in die Stadt“ erklärte sie genauer. „Ich habe ihn aber auch nicht gesehen. Narla hat das erzählt.“

„Und wo sind Yami und Yugi?“

„Die schlafen noch“ meinte Tristan. „Hast du was davon gehört, dass Seth gestern hier war?“

„Tato hat mich geweckt“ erzählte Mokuba und zog den Aschenbecher heran. „Er war wohl da und hat Yami gebissen.“

„Bitte was?“ Da machte Marie aber große Augen. „Gebissen?“

„Ganz anscheinend. Aber als ich kam, war er schon weg und ich konnte die Wunde nur noch heilen. Yami wurde von Tato schlafen gelegt und weiter erzählt hat Yugi mir auch nichts. Er meinte nur, dass wir uns erst mal keine Sorgen machen sollen.“

„Ich habe mich heute Morgen mit Tato unterhalten“ erzählte Tristan. „Er sagte, Yami hätte Seth verstoßen. Sie sind wohl irgendwie zusammengerasselt und … ich weiß auch nicht, was genau passiert ist. Nur eben, dass Seth jetzt offiziell kein Priester mehr ist.“

„Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob das so einfach geht“ fragte Marie nachdenklich. „Ich meine, kann Yami ihn einfach so von seiner Pflicht entbinden? Ich dachte, dass man so einen Priesterschwur auf Lebenszeit leistet.“

„Ich glaube nach ägyptischem Gesetzt müsste er Seth sogar töten“ fügte Mokuba zusätzlich an. „Aber so etwas tut er nicht. Ich denke mal, dass Seth sich schon einen ganz schönen Klopfer geleistet hat, dass Yami so reagiert. Oder irgendetwas, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Yami hat ne Engelsgeduld mit den Leuten, aber er lässt eben nicht alles mit sich machen. Und wer das glaubt, ist ein Idiot. Das sollte Seth am besten wissen.“

„Und selbst wenn, wer sollte Seth schon töten können? Sethos ist noch immer nicht über den Berg und außer ihm hat doch niemand die Macht dazu.“

„Wir wissen aber nicht, was mit Seto wird“ bedachte ihr Bruder. „Wenn er das mit der Wassermagie wirklich schafft, wäre er Seth bestimmt überlegen.“

„Überlegen ja, aber ob er seinen Yami töten könnte?“ fragte Mokuba sich leise und beobachtete die Glut seiner Zigarette. „Ich könnte Mokeph nicht töten. Selbst wenn er sich Seth anschließen würde und … egal was wäre, ich könnte meinem Yami nichts tun. Ich möchte nicht in Setos Haut stecken.“

„Ich finde die ganze Sache ganz furchtbar“ sprach sie und senkte den Blick. „Ich kann einfach nicht verstehen, warum Seth so ist. Wie er so werden konnte. Er ist doch immer ein barmherziger und vernünftiger Mensch gewesen. Bodenständig und mitfühlend. Ich kann mir nicht erklären wie er sich so verändern konnte. Ich hoffe immer noch, dass das alles nur ein Fluch ist und irgendwann alles einfach vorbeigeht.“

„Glaubst du denn daran, dass er noch mal zu uns zurückkehrt?“ fragte Mokuba ganz vorsichtig.

„Ob ich daran glaube oder nicht ist unwichtig. Nur was Yami tut, das ist entscheidend.“

„Na ja“ ergänzte er und wählte seine Worte mit Bedacht. „Immerhin bist du aber schwanger von ihm und nicht Yami. Und Yami ist auch nicht mit ihm verheiratet.“

„Ich habe Seth niemals etwas zu sagen gehabt“ antwortete sie mit trockener Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Von Anfang an habe ich gewusst, dass ich niemals an erster Stelle stehen werde. Dass ich immer hinter Yami zurückstehen werde. Ich weiß, dass Seth mich aus Liebe geheiratet hat, aber er hat schon viele Frauen aus Liebe geheiratet.“

„Aber du bist die einzige Frau, die er seit Ägypten geheiratet hat. Und das bestimmt nicht, weil er auf Monogamie abfährt.“

„Trotzdem steht eine Ehefrau immer weit nach dem Pharao. Ich habe das akzeptiert, also kann ich mich jetzt auch nicht darüber beschweren.“

„Trotzdem kannst du doch aber hoffen, oder?“

„Ich glaube, hoffen tun wir alle“ rettete Tristan seiner Schwester vor einer weiteren, schmerzenden Antwort. Natürlich war Marie am Boden zerstört, aber sie musste stark sein für die Kinder, welche sie erwartete. Sie konnte sich jetzt keinen Durchhänger leisten, sonst schadete das auch den Zwillingen. Auch wenn das Starksein in dieser Situation alles andere als leicht fiel. Und er als ihr Bruder musste für sie da sein. „Mir fehlt Seth auch. Ganz gewaltig sogar. Er ist mein bester Freund, aber er hat sich von uns noch niemals etwas sagen lassen. Wenn ich losgehen und diesen Mist aus seinem Hirn rausprügeln könnte oder wenn er für irgendwelche Argumente empfänglich wäre, dann würde ich nicht aufhören auf ihn einzureden. Aber wir verfügen weder über magische Kräfte noch über Autorität. Wir können rein gar nichts tun. Ich würde fast alles für ihn tun, aber nichts wäre genug. Und deshalb bleibt uns nur zu hoffen, dass er zur Vernunft kommt oder Yami einen Weg findet, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.“

„Selbst wenn Sethi sich besinnt und wieder normal wird“ sprach Marie leise. „Er würde sich das, was er getan hat, niemals verzeihen. Er würde daran kaputt gehen. Es ist zu viel passiert als dass er jetzt einfach umdrehen könnte.“

„Daran habe ich noch gar nicht gedacht“ stellte Mokuba selbst traurig fest. Selbst wenn Seth eine plötzliche Eingebung bekäme, würde er sich die begangenen Morde niemals verzeihen. Auch wie er seine Familie behandelte und wie respektlos er zu Yami war, das alles würde er niemals verwinden. Marie hatte Recht, er konnte jetzt nicht einfach so zurückkehren. Dafür war es zu spät. Ob es auch das war, was Yami gesehen hatte als er ihn aus seinem Priesterstand entließ?

„Aber das ist kein Grund“ tröstete Tristan sich selbst und die beiden anderen. „Auch wenn das was wir tun können nicht viel ist, so müssen wir es trotzdem tun.“

„Und das wäre?“ wollte Mokuba wissen und drückte seine halbe Kippe aus, die ihm jetzt auch nicht mehr schmeckte. „Ich kann ja auch nicht viel mehr tun als die Leute wieder zusammenzuflicken. Im Geschehen spiele ich doch auch keine Rolle.“

„Du bist ja wenigstens noch ein Heiler und ohne dich wären einige von uns nicht mehr hier. Aber wir anderen, ich, Mie, Nika, Tea - wir können kein Schicksal bewegen. Deshalb müssen wir für einander da sein“ sprach er ernst. „Wir müssen für Seths Söhne da sein und für ihre Mutter. Auch für Narla und Mokeph müssen wir da sein. Das sind die Leute, die am meisten mit ihm leiden. Und die, welche am tapfersten sind.“

„Das hast du schön gesagt“ seufzte Marie und nahm die Hand, welche ihr Bruder ihr reichte, um sie zu bestärken.

„Und was ist mit Seto?“ bemerkte Mokuba. „Vielleicht könnt ihr es nicht nachvollziehen, aber als Hikari empfindet man das noch intensiver. Man teilt sich ein Stück Seele und was Seth tut, das ist für Seto als würde er es selbst tun. Für ihn sollten wir auch da sein.“

„Ich wollte auch niemanden ausschließen. Aber Seto würde sich von uns nicht helfen lassen“ sprach er weiter und man merkte, dass er sich schon sehr viele Gedanken gemacht haben musste. „Das was Seto und Yami denken, das können wir nicht nachvollziehen. Natürlich helfen wir uns alle gegenseitig, alle zusammen. Seto ist mir auch sehr wichtig. Aber was er empfindet, das kann ein Hikari wie du oder ein Pharao wie Yugi viel eher nachempfinden. Ich könnte Seto keinen hilfreichen Rat geben. Ich kann einfach nur sein Freund sein. Also tue ich das, was ich tun kann. Auch wenn es nur wenig ist.“

„Was ihr tut, ist schon mehr als man verlangen kann.“ Yugi kam in diesem Moment aus der Tür und hatte die letzten Sätze gehört. Er legte Tristan die Hand auf die Schulter und blickte erst ihn, dann Marie sanft an. „Das was ihr mit uns mitmacht, würde kaum jemand aushalten. Dass ihr überhaupt noch mit uns befreundet seid, ist ein Wunder.“

„Unsinn“ winkte er beschämt ab.

„Nein, ehrlich. Habt ihr euch das mal überlegt?“ Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich zwischen Tristan und Mokuba. „Für Tristan und Nika wäre es doch eigentlich das Leichteste, wenn sie mit Feli einfach getrennt von uns leben würden. Marie hat schon vor ihrer Schwangerschaft mehr als genug mitgemacht und für alle anderen gilt das auch. Diese ewigen Kämpfe und jetzt dieser Horrortrip, das hätte jede Freundschaft zerstört. Wenn ihr nicht mit uns befreundet wäret, würde euer Leben viel einfacher sein.“

„Ach, so darfst du das nicht sehen. Das ist doch alles ein Nehmen und Geben“ widersprach er und lächelte ihn an. „Mal ehrlich, ich hätte niemals gedacht, dass ich mal in einer Villa wohne und mit Millionären befreundet bin. Außerdem hänge ich mit den heimlichen Herrschern der Erde ab und kenne ein paar Götter persönlich. Unterm Strich lohnt sich der Stress.“

„Aber wenn du mal ehrlich bist“ brachte Yugi behutsam an, „hast du nicht schon mal daran gedacht wie ruhig dein Leben sein könnte, wenn wir uns nie getroffen hätten? Seto und ich, wir konnten uns das nicht aussuchen. Aber ihr habt eine Wahl.“

„Ich kann mir mein Leben gar nicht anders vorstellen. Ohne Seth hätte ich Nika nie kennen gelernt und ob ich überhaupt studiert hätte, weiß ich auch nicht. Hätte ich dich nicht kennen gelernt, säße ich wahrscheinlich neben Joey in einer Gefängniszelle. Ich würde so ziemlich alles vermissen. Außerdem kann ich behaupten, die besten Freunde der Welt zu haben. Wer kann das schon?“

„Du kannst ja richtig schnulzig sein, Trissi“ lachte Marie. So kannte sie ihren kleinen Bruder gar nicht.

„Das muss an der Hitze liegen“ schmunzelte auch Mokuba.

„Gut, dass für morgen Regen angesagt ist. Und so was will ich von Yugi auch nie wieder hören“ beschloss Tristan und nippte an seinem Bier. „Was ist denn überhaupt mit Yami?“

„Wie was ist mit ihm?“ horchte Yugi auf.

„Na ja, es ist halb vier am Nachmittag und er liegt noch immer in den Federn.“

„Nein, tut er nicht“ widersprach er und blickte verwirrt in die Runde. „Er ist heute Morgen aufgestanden. So gegen halb acht. Nur ich habe mich dann erst schlafen gelegt und verpennt. Ich war ja die ganze Nacht wach bis ich wusste, dass er okay ist.“

„Noah und ich haben Nini und Tato heute mit in den Kindergarten genommen. Das war gegen acht Uhr. Ich wusste ja, dass du bei Yami bist“ erklärte Mokuba. „Aber da ist Yami uns nicht über den Weg gelaufen. Ich dachte, er schläft noch.“

„Aber Nini riecht ihn doch schon auf mehrere Meter“ wandte Marie ein. „Wenn er wach gewesen wäre, wäre sie ihm begegnet. Und das hätte sie erzählt.“

„Jetzt erzählt mir nicht, dass Yami weg ist“ bat Yugi und stand entschlossen auf.

„Hinten im Garten brauchst du nicht suchen. Da war ich eben“ hielt Mokuba ihn auf und erhob sich ebenfalls. „Aber wenn er oben nicht ist und hier auch nicht …“

„Ja, wo ist er dann?“ formulierte Marie die Frage zu Ende. „Wir dachten alle, ihr schlaft beide noch oben.“

„Wenn er weggegangen ist, können wir doch sein Handy orten“ war Tristans Idee. Wenn Yami denn überhaupt sein eigenes mithatte und es nicht wieder mit dem von jemand anderem verwechselt hatte.

„Yami benutzt keine Handys mehr. Er hat beschlossen, dass er ab jetzt ohne Handy lebt“ wusste Yugi und fuhr sich über die Stirn. „Okay, ganz ruhig jetzt. Wenn Seth noch mal wiedergekommen wäre, dann hätte das jemand gemerkt. Also muss das einen anderen Grund haben, dass er nicht hier ist.“

„Glaubst du, dass er entführt wurde?“ fürchtete Mokuba. „Wer sollte denn Yami entführen? Hier seid ihr Pharaonen doch so sicher wie sonst nirgendwo.“

„Malen wir nicht gleich den Teufel an die Wand. Erst mal überlegen.“ Auch wenn das gar nicht so einfach war. Yami konnte quasi überall sein. „Ist denn einer von den Magiern hier?“

„Im Moment bin nur ich hier“ antwortete Mokuba, dem sich langsam auch der Magen umdrehte. „Dakar ist irgendwie weg und die anderen sind gen Aquarium.“

„Tato und Dakar wären die einzigen beiden, die ihn mit ihren Sinnen finden könnten.“ Aber diese Idee musste Yugi damit verwerfen. „Was bedeutet denn, dass Dakar irgendwie weg ist?“

„Wir wissen nur nicht wo er ist. Vielleicht weiß Tea bescheid“ war Maries Idee. „Ich kann ja in der Zwischenzeit Tato anrufen. Vielleicht sind sie ja schon wieder auf dem Rückweg.“

„Danke, das kann ich auch selbst schnell machen.“

„Und ich gehe Tea fragen.“ Und damit verschwand Tristan auf dem schnellsten Wege durch das Restaurant in den dahinter gelegenen Garten.

Yugi holte sein Handy aus der Hosentasche, tippte auf die Kurzwahl und wartete Sekunden bis er eine Verbindung bekam. „Hallo Schatz“ grüßte er seinen großen Sohn ganz kurz. „Wo seid ihr denn? - … - Nein, noch nicht. Wir suchen Yami und haben uns gefragt, ob ihr vielleicht heute Morgen was bemerkt habt.“ Er wartete einen ganzen Moment und machte dann große Augen. „Ach so? Nein, habe ich nicht gemerkt. Da muss ich noch mal gucken gehen. - … - Nein, macht euch erst mal keine Sorgen. Ich melde mich gleich noch mal. - … - Erst mal nicht, das würde ihm ähnlich sehen. Ich laufe schnell rauf. Sag mir zwischendurch bitte mal wie es Sethos geht.“ Damit verschwand er schon wieder nach drinnen und ließ Mokuba und Marie draußen links liegen.

Die beiden sahen sich an und Mokuba wusste nichts anderes als sich wieder zu setzen und zu warten. „Ich hätte gern einen einzigen Tag, wo mal nichts passiert“ murrte er und fummelte an der Plastiktischdecke herum.

„Dann willst du zurück in die Pampa?“

„Gott bewahre.“ Nein, das dann auch nicht unbedingt. „Nur in letzter Zeit muss man sich um einige Leute ganz schön Sorgen machen. Mir wäre ja schon geholfen, wenn ich wüsste wie’s Seto geht. Aber bei dem weiß ja auch keiner wo er ist. Und der einzige, der es weiß, liegt im Krankenaquarium.“

„Wenigstens geht es Tato besser. Er hat sogar richtig gelacht heute Morgen.“

„Echt? Das habe ich nicht mitgekriegt.“

„Doch, wirklich“ lächelte sie. „Balthasar hat beim Frühstück einen schmutzigen Witz erzählt und Tato hat sich richtig beömmelt. Wenn er so lacht, sieht er wieder aus wie ein Zweijähriger. Richtig ansteckend.“

„Ich hatte gestern auch das Gefühl, dass es ihm besser geht. Ich glaube, dass er wieder fliegen kann, hat sein Seelenleben irgendwie verändert. Obwohl das mit Sethos ganz schrecklich ist, scheint Tato jetzt sehr viel gefestigter. Und die Tage im Krankenhaus haben ihm wohl auch zu denken gegeben.“

„Ich glaube, er weiß auch, dass wir jetzt auf ihn zählen“ überlegte sie und blickte immer wieder nach oben zu Yamis Zimmerfenster. „Sari ist noch zu jung, im Augenblick ist er also der einzige Drache bei uns.“

„Schon gruselig wie sehr man sich von so was abhängig macht“ bemerkte Mokuba und hatte schon einen Riss in die Tischdecke gefriemelt. „Mittlerweile ist es schon soweit, dass ich mich ohne Drachen ganz unwohl fühle.“

„Geht mir auch so. Aber ich glaube, das liegt an der Umgebung. Zuhause fühlen wir uns einfach sicherer, weil wir uns auskennen. Hier ist alles irgendwie neu und wenn ich jemanden auf der Straße sehe, frage ich mich immer was er wohl für eine Fähigkeit hat oder ob er so ein Normalo ist wie ich. Sachen über die man sonst nie nachdenkt.“

„Dakar war nur drüben im Supermarkt“ erzählte Tristan als er mit eben dem im Schlepptau zurück nach vorn kam und sich umguckte. „Wo ist Yugi?“

„Mit Tato am Ohr nach oben gelaufen“ zeigte Mokuba zu den Fenstern hinauf. „Was hast du denn im Supermarkt gemacht?“

„Mama brauchte neue Windeln und Shampoo.“ Wenn so ein ausdrucksloser Typ wie Dakar das sagte, war es eigentlich zum Schreien komisch. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein blasshäutiger Vampir mit langer Rabenmähne und stechenden Augen, aber eigentlich war er ein Muttersöhnchen und hatte sogar ihr zuliebe ein violettes Shirt angezogen, um auch mal was Farbiges zu tragen. Für Tea würde er einfach alles tun. „Soll ich Atemu nun suchen oder nicht?“

„Ich weiß nicht. Warten wir mal, was Yugi sagt.“ Doch auch wenn Mokuba nach oben sah, tat sich da nicht viel. Das Fenster war angekippt, aber sonst nichts zu erkennen. Jedoch wenn Yami in der Stadt war, würde Dakar ihn schnell finden. Er brauchte nur den Hauch eines Duftes und konnte sein ‚Opfer‘ über mehrere Kilometer verfolgen ohne dabei selbst gesehen zu werden. Dakar war der perfekte Jäger. Nun ja, was erwartete man auch anderes, wenn man eine Schlange zum Vater hatte?

Dann war auch Yugi wieder zur Stelle und trat heraus auf die Terrasse. Sein Handy hatte er weg gesteckt und hielt dafür einen Zettel in seiner Hand. Sein Gesichtsausdruck irgendetwas zwischen erleichtert, genervt und ungläubig.

„Und?“ fragte Marie nervös. „Weißt du wo er sich rumtreibt?“

„Nicht genau. Aber ich weiß, dass ihm nichts passiert ist“ antwortete er, lehnte sich an ihren Stuhl und las den Zettel vor. „Hört euch das an: Hi Yugi, bin einkaufen, habe deine Kreditkarten. Wartet nicht mit dem Essen auf mich. Kuss, Yami. Ist das zu glauben?“

„Und wo war der?“ guckte Mokuba genauso erleichtert wie verwirrt.

„In meiner Brieftasche. Als würde ich auf die Idee kommen, da reinzugucken, wenn ich meinen Yami suche. Manchmal macht er mich echt fertig.“

„Wahrscheinlich hat er das da reingesteckt, weil er deine Kreditkarten genommen hat“ mutmaßte Marie und nahm ihm den Zettel ab, um noch mal zu lesen. „Aber wenigstens ist ihm nichts passiert.“

„Woher wollt ihr denn wissen, dass der Zettel von ihm ist?“ Tristan war da noch sehr skeptisch. „Wenn Mokuba Recht hat und er entführt wurde, kann der auch gefälscht sein.“

„Wohl kaum.“ Marie drehte das Papier in sein Blickfeld und darauf erkannte man nichts weiter als Hieroglyphen. Aber nicht nur Zeichen, sondern sehr viele Striche, Kurven und Kringel. Seine Bildschrift war selbst für Laien von ‚normalen‘ Hieroglyphen zu unterscheiden, da seine Sprache sehr viel älter war. Sehr, sehr, sehr viel älter und es nur noch eine Hand voll Menschen gab, die das überhaupt lesen konnten. Selbst Ägyptologen würden das nicht entziffern können. „Wenn ihm was passiert wäre, hätte er da sonstwas hinschreiben können und dem Entführer wäre es nicht mal aufgefallen.“

„Es gibt das Wort Kreditkarte auf ägyptisch?“ bemerkte Tristan dennoch skeptisch.

„Nein, er hat es flacher Kleintausch genannt. Er meint damit aber Kreditkarten. Kleintausch nannte man zu seiner Zeit das Geld. Ich hab’s nur sinnvoll übersetzt“ erklärte Yugi und setzte sich zurück auf den Stuhl. „Ich werde ihn irgendwie dazu überreden müssen, dass er doch ein Handy bei sich trägt. Anders machen meine Nerven seine Allüren nicht mit.“
 

Yami ging es also gut, der war nur spontan dem Frustshoppen verfallen. Doch kaum war das eine Rätsel gelöst, tat sich gleich das nächste Problem auf. Eines welches sich auch sofort als solches zeigte. Oder eher anhörte, denn es drang ein gellender Schrei durch die Nachmittagshitze.

„BAAAAABBIIIIII!“

Und das hörte sich nicht an als wäre das ein Spiel.

„BAAAAABBIIIIII! BAAAAABBIIIIII!“

„Feli!“ Sofort sprang Tristan auf, schmiss den Stuhl dabei um und rannte durch die offene Tür in den Garten. Sie schrie um Hilfe, das hörte man selbst dann wenn man nicht ihr Papi war.

„Was ist denn da los?“ Und schon lief auch Mokuba hinterher und mit ihm die anderen. Schon bevor sie ankamen hörte man Tumult, hörte man Tea und Nika rufen und Hannes war auch bereits rausgerannt.

Draußen angekommen, war die Situation ebenso überraschend wie schnell überblickt. Am Zaun parkte ein dunkler Geländewagen, in welchem bei laufendem Motor ein Mann mit Sonnenbrille wartete. Im Garten flüchteten zwei Männer. Einer davon in sommerlichen Shorts und einem Shirt in selber, blauer Farbe. Der andere im schwarzen Anzug mit Krawatte und langem, blonden Haar. Allesamt unbekannt. Umso verbotener, dass der Anzugmann Feli im Arm hatte, ihr den Mund zuhielt und auf den Wagen zulief, während der Shortmann die Hände ausgestreckt hatte und in diesem Moment alle Personen, welcher zur Hilfe eilten auf den Boden warf.

„Das sind Magier!“ rief Tea, welche sich schützend vor die Kinder gestellt hatte und dabei wenigstens die übrig gebliebenen zusammenhielt.

Nika war bei ihrem Rettungsversuch zu Boden geworfen worden, aber Tristan war noch nicht nahe genug dran gewesen. Deshalb stürmte er genau jetzt auf die Kidnapper zu und warnte mit einem entschlossenen Rufen. „Lasst sie sofort los! Lasst sie los!“ Aber das kümmerte natürlich niemanden. Die Herren waren schnell und schon fast beim Auto angekommen als sowohl Tristan als auch zwei andere Männer umgeworfen wurden und sich längs auf dem Boden wiederfanden.

„Oh Gott! Feli!“ Aber Mokuba war nun mal kein Kämpfer. Selbst wenn, er war viel zu weit entfernt als dass er den Wagen noch hätte erreichen können. Ebenso wie Yugi, der aber gegen drei Männer auch nichts hätte ausrichten können. Beide liefen auf den Wagen zu, doch es war denkbar aussichtslos.

Der Mann mit den Shorts war bereits hinein geklettert, der Anzugmann wollte gerade. Nur Dakar war schnell. Wie aus dem Nichts trat er vor die geöffnete Wagentür und verhinderte die sofortige Flucht. Er konnte sich blitzschnell bewegen und sah dabei noch immer aus wie eine Zeitlupenaufnahme seiner selbst. Eine Hand streckte er nach hinten durch die offene Tür, die andere zum Fahrer. Bei Letzterem war zu sehen wie er sofort in Ohnmacht fiel und übers Lenkrad gebeugt liegen blieb. Dem anderen war es wahrscheinlich ähnlich ergangen. Dakars Blick allein reichte um den dritten Kidnapper vor sich erstarren zu lassen.

Dann ganz langsam wie eine Geistergestalt bewegte der Giftmagier sich. Er trat einen Schritt näher, nahm die schreiende Feli auf seinen Arm und zwang ihren Kopf an seine Schulter. Dann erst hauchte er dem erstarrten Mann seinen Atem entgegen, worauf dieser hustend auf den Boden sank.

Womit wieder bewiesen war, dass man sich mit einem hochklassigen Magier wie Dakar nicht auf einen Kampf einlassen sollte.

„Feli! Oh Süße, nicht weinen. Papi ist ja hier. Feli, mein Mäuschen. Ist ja gut.“ Tristan hatte sich zuerst aufgerappelt und nahm seine schreiende und weinende Tochter an sich. Ihm händigte Dakar das Mädchen sofort aus und blickte kalt auf den hustenden Mann zu seinen Füßen, um den er sich noch kümmern musste.

„Oh Gott, Felicitas! Tristan!“ Nika eilte auch sofort herbei und wollte ebenso an dem hustenden Mann vorbei und zu ihrer Tochter, doch als sie fast vorbei war, griff der Mann ihren Fuß. Er hatte sie kaum berührt, da stieß Dakars Arm herab und legte ihn flach auf den Rücken.

„Beweg dich noch ein Mal“ fauchte er und musste nicht mal zu Ende sprechen, um zu zeigen, dass es besser wäre, einfach liegen zu bleiben.

Während Nika ihre Tochter an sich drückte, kochte in Tristan die Wut hoch. Da hatte doch tatsächlich jemand Hand an seine Kleine gelegt. Das war eindeutig eine versuchte Entführung gewesen. Und zwar eine echte bei helllichtem Tage. Wäre Dakar nicht hier gewesen, hätte das böse ausgehen können.

„Na warte, du!“

„Nein, Tristan!“ Yugi hielt seinen Arm fest, bevor er in seiner Wut zuschlagen konnte.

„Lass mich! Der Kerl wollte Feli was antun! Der kann was erleben, dieses Arschloch!“

„Warte Tristan, warte“ bat er noch mal und drehte sich zu dem am Boden liegenden Mann. Der war unter Dakars Augen eh hilflos, aber Yugi spürte da mehr. „Wer bist du?“ fragte er ernst. Dem Mann war die Sonnenbrille heruntergefallen und sein Atem ging schwer, ließ ein enges Pfeifen hören. Aber in seinem Gesicht lag keine Bosheit. Viel eher blickte er verwirrt hinauf, sah zwischen Yugi und Dakar hin und her, bevor er zurück in den Garten blickte. „Wer bist du?“ fragte Yugi nochmals.

„Ich weiß nicht … was mache ich denn hier?“ Er schien selbst völlig ratlos.

„SPIEL HIER NICHT DEN DUMMEN!“ Dafür war Tristan in Rage und würde ihm am liebsten … „ICH BRING DICH UM, DU …“

„Tristan, warte. Bitte.“ Yugi kniete sich herab und blickte dem blonden Mann mit dem teuren Anzug tief in die Augen. Doch erkennen konnte er dort nicht viel. „Wie heißt du?“

„Rick … Patsson“ antwortete er und hielt sich hustend die Hand vor den Mund. „Was ist denn hier los?“

„Das wüssten wir auch gern“ erwiderte Tristan, der sich schwer damit tat seine Wut herunter zu schlucken.

„Hannes, kannst du uns helfen?“ bat Yugi. Der dicke Wirt stand noch im Garten und half einem der beiden Männer auf die Beine, welche ebenfalls zur Hilfe geeilt waren.

„Natürlich. Was ist denn los?“ Er kam herüber und sah prüfend erst auf den Hustenden, dann in das dunkle Innere des Geländewagens.

„Kannst du bitte die beiden nach drinnen bringen?“

„Braucht ihr denn noch irgendwas? Soll ich einen Arzt rufen?“

„Das ist nicht nötig“ mischte Dakar sich ein und zog etwas lieblos den bewusstlosen Shortmann am Kragen aus dem Wagen. Der hatte die volle Dröhnung bekommen und hing nun leblos in dessen Griff. „Bring den anderen rein. Erst in ein oder zwei Stunden hört meine Betäubung auf zu wirken.“

„Und Sie müssen mir bitte kurz etwas beantworten“ bat Yugi und legte dem verwirrten Mann am Boden die Hand auf die Schulter. „Sie wissen wirklich nicht, was passiert ist?“

„Nein, ich habe keine Ahnung“ antwortete er und nervös huschten seine Augen von einem zum anderen. „Ich bin aus dem Büro raus und wollte mit meinem Bruder ins Schwimmbad.“ Er wies auf den Mann in Shorts, welchen Dakar sich über die Schulter legte und ins Haus trug. „Was ist mit ihm?“

„Keine Sorge, ihm geht’s gut“ beruhigte Yugi und holte sich mit einem intensiven Blick die Aufmerksamkeit zurück. „Was ist genau passiert? Woran erinnern Sie sich?“

„Darf ich vorher etwas fragen?“ bat er und schluckte seinen Hustenreiz. „Sind Sie … Sie sind der Pharao?“

„Ja, bin ich. Also keine Angst.“ Er setzte sein sanftes, beruhigendes Lächeln auf. Vermuten tat er auch etwas, aber er wollte Gewissheit haben. „Erzählen Sie mir bitte kurz, woran Sie sich zuletzt erinnern.“

„Ich habe meinen Bruder an der Haltestelle getroffen. Dort vorn“ zeigte er auf das Haus, meinte aber sicher die Straße, welcher dort verlief. „Wir standen dort und warteten auf die Straßenbahn. Dann kam dieser schwarze Wagen vorbei und hielt vor uns. Und dann finde ich mich hier auf dem Boden wieder und mein Bruder ist bewusstlos.“

„Ich glaube ihm kein Wort“ schnaubte Tristan. Er hielt sich sehr zurück, um Yugi nicht zu übergehen, aber er würde immer noch viel lieber …

„Bleib cool, Tristan. Er war das nicht“ löste Yugi auf.

„Ich soll cool bleiben? Meine Tochter wäre fast entführt worden und du sagst, ich soll cool bleiben?! Tickst du noch ganz richtig?!“

„Überlass das Yugi“ bat auch Nika. Sie beruhigte noch immer Felis Weinen und schuckelte sie auf den Armen. „Komm, wir gehen rein. Ich brauche ein Pflaster.“

„Ist Feli was passiert?“

„Nein, er hat mich gekratzt.“ Sie schob ihren Fuß mit den pinken Flipflops vor und an ihrem Unterschenkel zog sich ein mehrere Zentimeter langer Kratzer entlang, welcher leicht blutete. Nicht schlimm, aber eben auch nicht schön. „Komm mit und lass das Yugi und Moki machen.“

Er warf dem Typen noch einen dunklen Blick zu, aber trat dann seiner Frau zuliebe den Rückweg an.

„Ich komme gleich und kümmere mich um deinen Kratzer“ versprach Mokuba. Er wollte Yugi jetzt nicht allein lassen und Nika würde noch einen Augenblick warten können.

„Ich glaube, Sie waren von jemandem besessen“ erklärte Yugi dem völlig verwirrten Mann. „Es gibt Magier und Hexen, die können die Körper von anderen übernehmen und Sie Dinge tun lassen, die Sie selbst niemals tun würden. Ich habe eine Veränderung bei Ihnen gespürt, die so grundsätzlich war, dass ich mir sehr sicher bin, dass Sie besessen waren.“

„Warum, was …?“ Er guckte Yugi an und war völlig von der Rolle. „Was habe ich denn getan?“

„Nicht Sie, aber jemand in Ihrem Körper hat versucht, die Tochter meines Freundes zu entführen.“

„Oh Gott …“ Und so wie er schaute, konnte man das nicht spielen. „Aber das … oh Gott, das tut mir leid. Ich würde nie … also … ich bin nicht mal magisch begabt. Ich weiß, dass mein Bruder, aber … er würde auch nie … und den anderen kannte ich nicht mal, der da … oh Gott …“

„Schon gut, es ist nicht Ihre Schuld“ beruhigte Yugi. Er hatte herausbekommen, was er wollte und wusste nun, dass die drei Männer wahrscheinlich gar nichts davon wussten, was sie getan hatten. Einer war wohl magisch begabt, aber dass jemand aus Blekinge versuchen würde, dem Pharao oder seiner Familie etwas anzutun, war sehr unwahrscheinlich.

Was jetzt aber noch zu klären war … warum Feli?
 


 

Chapter 2
 

„Das habe ich mich gleich gefragt“ meinte Noah und rührte mit dem Strohhalm die Zitrone in seinem Eistee. Er und Joey wie auch Narla waren gleich zurückgekommen als sie von dem Ereignis erfuhren. Ein solcher Entführungsversuch war ausreichend Grund für die Gruppe, sich zusammenzurotten. Nur Amun-Re war im Aquarium geblieben, wo Balthasar und Spatz seinen Schutz übernahmen. Alle anderen waren binnen einer Stunde alle vollzählig. Ach ja, bis auf Yami, der noch immer irgendwo wild Geld ausgab, aber dafür hatte man wenigstens Mokeph auf dem Handy erreicht.

„Was denn?“ guckte Dante ihn an, der dem Gespräch zwar folgen wollte, aber die Zusammenhänge nicht so recht verstand. Die Kinder hatten den Trubel schon fast wieder vergessen und spielten bereits in der Sandkiste. Von den Erwachsenen wurde ihnen ernst erklärt, dass sie nicht zu fremden Leuten gehen durften, aber wurden gleichsam beruhigt, dass alles in Ordnung sei, solange ein Erwachsener in der Nähe sei. Nur Feli bebte noch immer am ganzen Körper und saß zwischen Mamas Armen versteckt, wobei ihr auch die Hitze egal war.

„Nichts, Kleiner. Hast du ausgetrunken?“ Noah nahm Dante das leere Saftglas ab und strich ihm die Haare aus der Stirn, während der nickte. „Gut, dann geh wieder spielen.“

„Oki, Kleiner. Danke schön, bitte sehr.“ Und schon war er wieder weg, um Tato und Nini im Sandburgenbau zu unterstützen.

„Das ist wirklich ein Rätsel“ überlegte auch Tristan. „Wenn ich ein Kind entführen wollte, dann würde ich Nini oder Dante entführen. Bei Nika und mir gibt’s doch kaum Geld zu holen.“

„Klingt ja nett“ murrte Mokuba. „Ich würde meinen Dante und mein Geld ganz gern beide behalten.“

„Ich meine euch zu erpressen, würde sich wenigstens lohnen“ versuchte er zu erklären. „Nika verdient mit Mode zwar auch ganz gut, aber im Vergleich zu den Familien Kaiba und Muto sind wir doch arme Schlucker.“

„Wer uns aber kennt, der weiß, dass wir jede Summe für eure Kinder zahlen würden“ führte Noah seine Gedanken fort und blickte besorgt hinüber zu den spielenden Kindern. „Das waren auch keine gewöhnlichen Entführer. Sie haben abgewartet bis möglichst alle unsere Magier abwesend sind. Das heißt, sie haben uns beobachtet.“

„Und Dakar war eigentlich auch weg. Nur gut, dass der Supermarkt heute leer war“ äußerte Tea und legte sich die kleine Theresa über die andere Schulter, denn das Bäuerchen ließ heute länger auf sich warten. „Wäre er nicht so schnell zurück gewesen … ich will gar nicht dran denken, was dann wäre.“

„Dakar ist der Held des Tages“ grinste Joey breit, aber von dem frisch gekürten Helden kam keine Reaktion. Er blickte einfach irgendwo ins Nichts, so wie immer.

„Mich wundert es eher, dass so was mitten in Blekinge passieren kann“ sprach Mokeph ernst. „Ich dachte, hier sind wir sicher. Wenn wir bedroht werden und kämpfen müssen, hätten wir auch in Domino bleiben können.“

„Amen“ ergänzte Mokuba.

„Balthasar sagte mir am Telefon, dass derjenige gar nicht in Blekinge sein muss. Und er kennt sich mit so etwas doch am Besten aus“ erzählte Marie. „Er sagte, wenn man diese Geistbesetzung ausreichend gut beherrscht, dass man dann auch einen Körper übernehmen kann, der viele Kilometer weit weg ist. Er sagte, er könnte Phoenix und Narla auch am anderen Ende der Welt spüren und besetzen. Und andere Leute, mit denen er nicht verwandt ist, muss er nur ein Mal bewusst berührt haben, um sie immer wieder aufspüren zu können.“

„Du meinst es wäre also möglich, dass der oder die Entführer gar nicht selbst in Blekinge sind und mindestens so begabt wie Balthasar“ kombinierte Noah und versuchte möglichst schnell dahinter zu kommen, wer oder was genau sie hier bedrohte. „Voraussetzen können wir also nur, dass derjenige etwas von uns will, sonst hätten sie Feli auch sofort töten können, dafür waren sie nahe genug.“

„Sag sowas nicht“ bibberte Nika, welche solch einen Gedanken gar nicht haben wollte.

„Ich sage nur, sie waren offensichtlich nicht darauf aus, sie zu verletzen. Das legt nahe, sie wollten uns erpressen.“

„Oder sie wollten etwas von Feli.“ Tato kam zu ihnen in den Garten und nahm sich unterwegs zwei Stühle mit. Einen für sich und einen für Sareth, welche hinter ihm ging.

„Hast du etwas in ihren Gedanken gesehen?“ hoffte Tristan auf Erklärung. Tato war bei allen drei Männern gewesen, um ihre Gedanken und Erinnerungen zu prüfen, denn solch geistlichen Fähigkeiten besaß Dakar nicht. Sareth musste so etwas noch trainieren, weshalb sie ihrem Vater diesmal dabei assistierte.

„Nichts, was uns auf eine Spur führen würde“ erzählte er und rückte seiner Tochter den Stuhl hin. „Ich habe die drei nach hause geschickt.“

„Wir sollen euch sagen, dass es ihnen schrecklich leid tut“ ergänzte Sareth und sprach dabei direkt Tristan und Nika an. „Sie wussten gar nicht, was sie taten. Aber es tut ihnen trotzdem leid. Sie haben ihre Telefonnummern aufgeschrieben, falls ihr noch mal mit ihnen reden wollt.“

„Nur einer von ihnen ist Hexer. Er ist aber eher schwach begabt“ erklärte ihr Vater weiter, setzte sich und nahm die Zigarettenschachtel vom Tisch. „Sein Talent liegt darin, durch Dinge hindurch zu sehen. Hauptsächlich durch Stein. Seine Fähigkeiten sind aber sehr gering ausgeprägt und er hat sie nur als Jugendlicher studiert. Jetzt ist er ein nicht praktizierender Hexer, also eigentlich nutzlos.“

„Er hat aber eine Energiewelle über den Boden geschickt“ wandte Yugi ein. „Sobald Dakar da war, hat sich der Energiestrom um ihn herum verändert. Danach floss er normal. Bevor Dakar ihn betäubt hat, war die Energie irgendwie … gar nicht vorhanden. Als würde das Leben einen Bogen um ihn herum machen.“

„Seit wann entwickelst du denn magische Fähigkeiten, Yugi?“ horchte Joey.

„Ich weiß auch nicht, was das war. Ich kann nur sagen, dass ich da eine Art toten Punkt gefühlt habe. Ich bin magisch vielleicht eher unbegabt, aber ich weiß, wie sich Energie anfühlt. Und ich ich weiß, dass ich dort etwas unnatürliches wahrgenommen habe.“

„Das kann ich nicht beurteilen. Das ist Pharaonenquatsch“ murrte Tato. Er hasste es, wenn er etwas nicht nachvollziehen konnte und das Spüren der Energieflüsse beherrschte er nur gering bei Menschen, bei allem anderen gar nicht. Das jedoch war das, was die Pharaonen als einzige konnten. Er würde ja auch gern, immerhin trug er Yugis Geist in sich … doch zum Pharao taugte er trotzdem nicht. Die Energie der Erde kommunizierte nicht mit ihm.

„Also konntest du nichts herausfinden“ unterstellte Tristan enttäuscht.

„Nur eben, dass die drei besessen waren“ erklärte er und schlug die Beine übereinander. „Interessant finde ich aber, dass sie alle von nur einem Geist besessen waren. Es war also nur eine Person, die alle drei gelenkt hat. Ungewöhnlich“ erklärte er weiter und zündete seine Kippe an, der Aschenbecher rutschte ganz automatisch über den Tisch an seinen Platz. „Ich konnte Spuren seines Geistes in ihnen ausmachen, Fetzen und Farben von Gedanken, fremden Erinnerungen, sie aber nicht zurückverfolgen. Sareth hat ihn auch gespürt und wir sind uns sicher, dass er nicht in der Nähe ist. Wahrscheinlich nicht mal in dieser Stadt. Jedoch sobald er oder ein weiteres seiner Medien in unseren Dunstkreis kommt, werden wir das spüren.“

„Also sind wir sicher“ wollte Nika nur die beruhigenden Worte hören.

„Im Augenblick ja“ brummte er dunkel. „Ich wäre gern selbst hier gewesen. Vielleicht hätte ich seine Gedanken lesen können. Nur ungern lasse ich den Kerl einfach so davonkommen.“

„Woher willst du wissen, dass es ein Kerl war?“ fragte Tea. „Es könnte auch eine Frau gewesen sein.“

„Nein, das war ein Kerl. Seine Gedanken waren männlich. So was sehe ich.“

„Wenn er was will, wird er wiederkommen“ meinte Joey und schlug die Fäuste ineinander. „Und dann schnappen wir uns den Kerl.“

„Definiere wir“ blickte Tato ihn skeptisch an.

„Mann, du weißt doch wie ich das meine. Den machen wir platt. Du hältst ihn fest und ich trete ihm in die Eier.“

„Damit verletzt du nur sein Medium. Überlass die Sache lieber den großen Jungs.“

„Ich wüsste dennoch gern, worauf die ganze Aktion abzielte“ steuerte Noah auf das Ursprungsthema zurück. „Wollte uns derjenige erpressen oder war das nur eine Warnung?“

„Für eine Warnung war das zu gut geplant. Er muss gewartet haben bis wir alle weit verstreut waren“ dachte Tato den Gedanken weiter. „Und er war so clever, niemanden von uns zu besetzen.“

„Ja, stimmt“ rief Sareth verblüfft. „Wenn seine Intention auf eines der Kinder gerichtet wäre, dann hätte er auch ein Kind besetzen können und wäre einfach weggelaufen.“

„Er muss also wissen oder zumindest ahnen, dass wir alle Schutzzauber auf uns tragen. Sobald er einen von uns angreift, schellen bei uns Magiern sofort alle Alarmglocken.“

„Ach ja, stimmt“ erinnerte sich Sareth. „Außer bei Dakar. Nur bei dir, mir und Balthasar. Und Oma, wenn er hier wäre. Oder Sethos, wenn er …“ Ja, wenn er etwas lebendiger wäre. Im Augenblick war er dem Tode näher. „Wir sollten es doch eigentlich spüren, wenn jemand von uns in eine kafkaeske Situation gerät.“

„Haltet ihr es für möglich, dass Papa dahinter steckt?“ fragte Narla vorsichtig.

„Nein, was sollte der mit Felicitas anfangen?“ zuckte Tato mit den Schultern. „Ich bin relativ sicher, dass er direkt und nur sie haben wollte. Und er wollte sie lebendig und bei Bewusstsein.“

„Das habe ich auch gespürt“ ergänzte Sareth. „In den Gedanken der Männer war das massive Bedürfnis, Feli mitzunehmen.“

„Da wir beide dasselbe gespürt haben, sind wir davon überzeugt“ führte ihr Vater den Bericht weiter aus. „Sie waren nur auf dieses eine Kind fixiert. Sie wollten kein anderes, nur Feli.“

„Aber was wollen sie denn mit Feli?“ fürchtete Nika und drückte sie nur noch fester an sich. „Sie hat doch nichts. Sie kennt keine Geheimnisse und steht nicht mal richtig in Blutsverwandtschaft mit jemandem von uns. Für einen anderen Magier wäre sie doch total nutzlos.“

„Das wundert mich auch“ bemerkte Tato nachdenklich. „Wenn es um einen Körper ginge, wäre Dante das perfekte Opfer. Wenn es um Magie ginge, hätte er klein Tato mitnehmen müssen oder Baby Dakar. Nini wäre auch gut zu gebrauchen, wenn man es auf pharaonische Kräfte abgesehen hätte. Selbst Risa und Thesi und Joey wären besser, sie sind mit Seth blutsverwandt. Feli ist ein zuckersüßes Püppchen, aber für einen magiebezogenen Kidnapper denkbar nutzlos.“

„Aber er hatte es trotzdem nur auf sie abgesehen?“ Tristan versuchte zwar, es zu verstehen, aber so sehr er Feli auch liebte, konnte er sich nicht vorstellen, was ein Fremder mit ihr anfangen wollte. Nüchtern betrachtet, war sie das nutzloseste Opfer, das man bekommen konnte.

„Vielleicht hat sie etwas an sich oder etwas gesehen.“ Wie immer wenn Dakar mal sprach, durchbrach seine heisere Stimme die ganze Situation. Und brachte einen völlig neuen Denkansatz.

„Wie meinst du das?“ wollte Tato genauer wissen.

„Wenn sie etwas in sich trägt, was für jemand anderen wichtig ist“ sprach er und heftete seinen messerscharfen Blick auf das versteckte Mädchen. „Vielleicht eine gewisse Mutation in ihrem Körper oder ein gefährliches Wort in ihren Gedanken. Vielleicht hat sie etwas beobachtet, was jemanden in Bedrängnis bringt.“

„Ich habe nichts besonderes bei Feli beobachtet“ versuchte Nika ihre Kleine zu beschützen. „Sie ist genauso wie immer.“

„Keine Veränderungen?“ horchte Dakar direkt aus. „Wiederholt sie ein Wort besonders oft oder führt sie vermehrt bestimmte Bewegungen aus? Irgendetwas auffälliges?“

„Nein, mit ihr ist alles wie immer“ betonte Mami. „Sie ist seit letzter Woche im Kindergarten und malt seitdem ständig Bäume. Aber sonst …“

„Aber das tun sie alle“ behauptete Tristan. „Nini und Tato malen auch nur noch Bäume. Das ist Mode bei den Kids.“

„Und sie singt ständig ‚Ein Männlein steht im Walde‘. Und sie isst viel Honigmelone im Augenblick. Honigmelone ist ihr Lieblingswort.“

„Das machen unsere Kleinen aber auch“ meinte Yugi. „Ist denn irgendwem in letzter Zeit etwas bei Feli aufgefallen?“

Es war bereits halb sieben Uhr am Abend und man hörte die Grillen zirpen. Der Ton passte perfekt zu der Stille, welche in diesem Moment herrschte. Niemandem war jemals etwas ungewöhnliches an Feli aufgefallen. Man konnte noch so viel herumraten, es fiel niemandem etwas ein, was sie für einen Kidnapper attraktiv machte. Jedenfalls nichts was attraktiver war als bei den anderen Kindern.

„Wir sollten einfach besonders gut auf sie aufpassen“ beschloss Tato. „Ich schlage vor, dass immer einer von uns bei ihr ist, der sie im Ernstfall verteidigen kann. Am idealsten wäre natürlich Balthasar. Wenn es um Medienmagie geht, ist er der Erfahrenste von uns.“

„Dann gehe ich mit in den Kindergarten“ schlug Mokeph vor. „Risa soll nächste Woche ohnehin eingewöhnt werden und dafür sind mindestens zwei Wochen angesetzt. Dann mache ich das. Wenn es dir recht ist.“ Er fragte vorsichtig Tea, denn eigentlich war sie diejenige, welche Risa an den Kindergarten gewöhnen sollte. Es war ganz normal, dass die Eltern am Anfang noch vor Ort blieben, damit die Kleinen sich nicht verlassen vorkamen. Nika und Tristan wechselten sich seit letzter Woche ab. Dante hatte gar keine Eingewöhnung gebraucht, ihm reichte es wenn seine Freunde da waren und Nini hatte ihm ja alles erklärt. Aber Tea wollte das bei ihrer ersten Tochter eigentlich selbst machen und ob sie das Mokeph so einfach überlassen würde? Ihr Vertrauen zu ihm war gebrochen.

Deshalb sah sie ihn sehr prüfend an und diese Entscheidung fiel ihr sichtlich schwer. Doch es war das Sinnvollste in diesem Moment. „Nur wenn du Risa dabei nicht ganz aus den Augen verlierst.“

„Wann habe ich meine Kinder schon mal aus den Augen verloren? Hm?“ Er fragte das ganz sanft, wollte sie beruhigen.

Doch ihr Blick sprach Bände. Es lag ihr auf der Zunge. >Als du die andere gebumst hast.< Doch sie wollte vor versammelter Mannschaft nicht noch eine Szene machen. Also schwieg sie, blickte weg und streichelte Theresa über den Rücken.

„Okay, dann machen wir es so“ fasste Tato noch mal zusammen. „Mokeph achtet auf Feli, wenn sie im Kindergarten ist. Ansonsten bitten wir Balthasar, dass er auf sie aufpasst. Die restliche Zeit werden Sareth, Narla, Dakar und ich uns abwechseln, sodass auch immer jemand im Aquarium ist. Amun-Re und Sethan sollten wir nicht allein lassen.“

„Ich … ich kann morgen nicht“ warf Sareth ganz leise, ganz piepsig ein und senkte beschämt den Blick.

„Musst du auch nicht“ tat ihr Vater das ab.

„Warum?“ wollte Joey wissen. Er checkte das nicht sofort. „Macht Sareth jetzt Urlaub, oder wie? Ich würde ja auch gehen, aber ich habe nun mal keine AUA! Mann, Narla!“

„Stell dich nicht so blöd an“ seufzte sie und streichelte seinen Arm, auf den sie eben so nachdrücklich gehauen hatte. „Morgen ist Neumond.“

„Aber ich denke bei Sareth ist das nicht so doll.“

„Ist es auch nicht“ antwortete sie leise. „Aber ich werde immer so … müde.“

„Ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen und Beobachtungsgabe täte dir mal ganz gut“ meinte Narla, nahm seine Hand und küsste sie. „Halt einfach den Mund, wenn die Erwachsenen reden.“

„Ich bin älter als du.“

„Ja ja …“

„Dann gehe ich langfristig zu Sethan“ bot Dakar an. „Ich brauche am wenigsten Schlaf und meine Sinne sind scharf genug. Davon abgesehen, habe ich eh kaum mehr zu tun als Mama hinterher zu laufen.“

„Die Idee ist gar nicht so doof.“

„Ich werde dich ganz oft besuchen“ lächelte Tea ihn an. Und sie bekam sogar ein schmales Lächeln zurück. Er zeigte nicht viele Emotionen, aber für Tea gab er sich Mühe, das merkte man. Er lebte in einer eigenen Verehrung zu ihr.

„Ich liebe dich, Mama.“
 

„Boah, was ist das denn?“ Es war nicht nur Joeys baffer Ausruf, welcher die Situation sprengte, sondern der filmreife Auftritt eines anderen.

Um die Ecke bog ein wuchtiges Motorrad mit silbern polierten Felgen, breiten Reifen und einer ausgewachsenen Manneslänge. Das schwarze Metall glänzte und reflektierte das Sonnenlicht über seine breiten Lamellen, während der Fahrer weit über den Rumpf bis zu dem kurzen Lenker vorgebeugt lag. Diese wahnsinnige Maschine parkte direkt am Gartenzaun, der Fahrer stieg ab und als er den schwarzen Helm absetzte, wussten alle sofort, was Yami mit Yugis Kreditkarten angestellt hatte. Er hatte sich nicht nur ein neues Motorrad gekauft, sondern war offensichtlich beim Frisör gewesen. Seine blonde Mähne war nun schwarz wie die Nacht, ebenso wie seine Lederklufft. Selbst als er die Jacke auszog, trug er darunter ein schwarzes T-Shirt mit der glutroten Aufschrift ‚Pharao‘. Deutlicher ging es nun ja wohl nicht mehr. Der Hit aber waren seine knallroten Lederturnschuhe, die einem schon aus der Ferne zuschrien: Seht wie sexy ich bin!

Yami grinste seine Freunde an, winkte kurz und klappte dann die Taschen seiner Maschine hoch, nahm zwei Arme voll Einkaufstüten heraus und schleppte seine Beute gen Gartenpforte.

„Hey, Yami!“ Yugi fand zuerst seine Sprache wieder, während selbst den Kindern der Mund offenstand. Nur Nini schrie und lachte wild bei seinem Anblick.

„Hey!“ rief er zurück, aber lief einfach weiter.

In der Tür kam ihm Hannes entgegen, der drinnen wohl das Brüllen der Maschine gehört hatte und zum Schauen rauskam. Er war so breit gebaut, dass Yami nicht an ihm vorbeitanzen konnte und sich von oben bis unten betrachten lassen musste. „Hallo Pharao“ grüßte der Wirt überrascht.

„Hi Hannes“ grinste Yami. „Kannst du meine Taschen nach oben bringen?“

„Öhm …“ Viel Wahl hatte er nicht, da drückte Yami ihm schon seine gesammelte Pracht in die Hände.

„Und dann hätte ich gern irgendwas mit einem Schirmchen drin. Danke schön.“ Er drehte sich zur Seite, schwang die Beine über den Gartenzaun und tänzelte auf die anderen zu. Sichtlich gut gelaunt.

„Was ist denn mit dir passiert?“ fragte Joey stellvertretend für alle anderen. „Hast du dir etwa die Augen geschminkt?“

„Die Kosmetikerin meinte, ich hätte die perfekte Augenkontur für so was. Hab ich früher schon schick gefunden.“ Also ja, er hatte sich die Augen schwarz gemacht.

„Dooooofiiiii! Wie siehst du denn aus?“ Nini sprang ihm auf den Arm, sodass er keine andere Wahl mehr hatte als sie aufzufangen. „Wer hat das mit deinen Haaren gemacht? Sie sind schwarz wie Schuhcreme!“

„Gut erkannt“ freute er sich und knutschte sie. „Gefällt’s dir?“

„Du siehst voll super aus! Wie ein Playboy!“

„Bin ich ja auch.“ Er guckte kurz zurück, aber Tato und Dante waren an den Zaun gelaufen und betrachten durch ihn hindurch das Motorrad, berührten es neugierig mit ihren Händen. Das Ding interessierte die Jungs wesentlich mehr als eine neue Frisur. Nur Risa buddelte weiter im Sand als sei nichts gewesen.

„Und wir haben uns Sorgen um dich gemacht“ kommentierte Tea verwundert. „Aber dir scheint’s ja richtig gut zu gehen.“

„Kann ich deine neuen Haare anfassen?“ Und schon war Nini dabei und strich erst mit den Fingerspitzen, dann mit der ganzen Hand über seine neue Farbe. Die Frisur selbst war kaum verändert. Zwei lange Ponysträhnen hingen an den Seiten herab, der Rest in einen kurzen Zopf gebändigt. Nur aus dem strahlenden Goldblond war reines Schwarz geworden.

„Yami?“ fragte Yugi misstrauisch. „Geht’s dir wirklich gut?“

„Du meinst wegen der Haare?“

„Nein, du wolltest sie schon lange schwarz haben“ erklärte er und senkte vorsichtig die Stimme. „Aber nach dem was gestern war …“

„Keine Sorge, Yugischatzi. Ich habe mich lange nicht mehr so befreit gefühlt“ antwortete er, drehte sich mit Nini bis sie lachte und setzte sie auf dem Boden ab und sich selbst dann ganz frech auf Tatos Schoß, grinste ihn breit und fröhlich an. „Na Großer? Gemütlich hier bei dir.“

„Runter.“

„Geht nicht. Es ist kein Stuhl mehr frei.“

„Dann setz dich auf irgendwen anderes!“

„Aber du hast die hübschesten Beine.“ Na, wenigstens war er direkt.

„Depressiv warst du weniger nervig“ bemerkte Tato und schob ihn kraftvoll herunter. Aber nur um selbst aufzustehen und sich einen neuen Stuhl zu holen.

Yami indessen fischte seine neues Portemonnaie heraus, welches an einer langen Silberkette baumelte. „Hier. Danke für die Leihgabe.“ Er legte Yugi seine drei Kreditkarten auf den Tisch und überließ Nini „Kann ich mal gucken?“ den Rest zum Ausforschen. Sie war eben neugierig.

„Du warst wohl ganz schön teuer“ bemerkte Yugi mit Blick auf das Motorrad. „Neuer fahrbarer Untersatz, neues Outfit, neues Styling … sollte ich sonst noch was wissen? Nur damit Seto das eventuell von der Steuer absetzen kann.“

„Die silberne Kreditkarte ist überzogen“ erklärte er freimütig. „Sonst ist alles gut.“

„Du hast es geschafft, die Kreditkarte auszureizen?“ Das brachte selbst den krisenerprobten Yugi zum Staunen. Er wusste nur, dass er das Limit gar nicht kannte. Seto sagte immer: ‚Mach dir keine Sorgen.‘ Und die hatte Yugi bisher auch nie gehabt. Bis Yami kam. „Wie viel hast du denn ausgegeben?“

„Weiß ich nicht. Die Belege sind irgendwo in den Taschen.“ Und Sorgen kannte er wohl auch nicht mehr.

„Hast du mir auch was mitgebracht?“ Im Portemonnaie fand sie nur ein paar Geldscheine und Münzen, irgendwelche anderen Papierfetzen und ein Bonbonpapier. Nichts interessant daran.

„Natürlich habe ich euch nicht vergessen“ lächelte er sie lieb an. „Bei Hannes ist ne gelbe Tüte. Die kannst du mal herbringen.“

„Jaaaa! Geschenke!“ Und schon war sie unterwegs zur Wundertüte.

„Yami, was hast du denn bloß alles gekauft?“ Yugi kam noch immer nicht darüber hinweg, dass er eine Kreditkarte komplett zum Ende gebracht hatte. So was war doch eigentlich gar nicht möglich.

„Ich hab’s mir gutgehen lassen“ lächelte er und lehnte sich entspannt zurück. „Erst war ich Wellness machen. Ich brauchte einfach ne rundum Erneuerung. Danach habe ich mir einen Porsche mit Fahrer für den ganzen Tag angeheuert und bin in jedem Laden gewesen, den ich finden konnte. Die besten Sachen habe ich so mitgenommen, der Rest wird morgen geliefert.“

„Geliefert?! Was denn alles?“

„Wirst du dann sehen“ grinste er zufrieden. „Und dann habe ich diese traumhafte Maschine gesehen und musste sie nach der Probefahrt einfach mitnehmen. Ich wollte eigentlich was in rot oder grün haben, aber schwarz ist auch okay. Zumal die Form mir perfekt passt.“

„Ist die nicht etwas groß für dich?“ Yugi traute diesen Dingern einfach nicht. Yami fuhr eigentlich lieber kleine, schnelle Maschinen und das dort hinten war ein Riese.

„Eigentlich schon, aber sie ist perfekt. Danach bin ich was essen gegangen und weil ich so gute Laune hatte, habe ich alle Leute eingeladen, die da waren.“ Dann war es auch kein Wunder, dass die Karte tot war. „Zum Schluss war ich noch im Swingerclub und jetzt will ich nur noch in der Sonne liegen und irgendwas mit Schirmchen trinken.“

„Und?“ lächelte Narla ihn an. „Nette Bekanntschaft gemacht bei den Swingern?“

„Nicht direkt. Da hat jeder ne Maske getragen. Heute war Blind Date das Thema. Die haben jede Woche ein anderes Thema“ erklärte er freimütig. „Aber da waren ein paar sehr hübsche Menschen und die waren sehr nett zu mir. Ich habe mir ne Kundenkarte machen lassen. Ab zehn Besuchen gibt’s ein Mal gratis. Also wenn du auch mal willst.“

„Ich?“ Narla? „Ati, ich bin minderjährig.“

„Ach ja, habe ich vergessen“ lachte er, aber das tat seiner Fröhlichkeit keinen Abbruch. „Dann weiß ich ja, was wir zu deinem 21. Geburtstag machen.“

„ … “

„Also, ich finde die Idee nicht so gut“ mischte Joey sich entschieden ein. „Narla und ich feiern allein, wenn sie volljährig wird. Da brauchen wir keine fremden Männer mit Masken!“

„Aber vielleicht Frauen.“ Auf diesen Satz hin blickte Joey sie an wie ein Auto. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? „Ja, ehrlich“ betonte sie mit verstecktem Grinsen. „Du bist zwar ein guter Liebhaber, aber vielleicht haben Frauen mir ja auch etwas zu bieten. Ich meine du sagst selbst, dass ich manchmal zu jungenhaft bin und wenn ich volljährig werde, will ich vielleicht auch mal etwas mehr ausprobieren.“

„Was soll das denn heißen?“

„Joseph, mein Bärchen“ lächelte sie herzallerliebst. „Sei doch nicht so verklemmt. Du darfst uns auch zusehen.“

Jetzt konnte er gar nichts mehr sagen. Seine Gesichtsfarbe glich einem Feuerlöscher und sein Ausdruck sagte, dass er noch unschlüssig war, ob er nun sauer oder verzweifelt sein sollte oder einfach schreiend wegrennen. „Du … verarscht mich.“

„Nein, warum sollte ich? Überleg doch mal, mein Vater mag’s auch gern wild. Warum sollte ich da anders sein?“

„Aber … aber du bist doch meine … aber …“

„Aber was? Hm?“ Sie legte ihm die Hand aufs Knie und wenn er nicht so blond wäre, hätte er den Braten schon gerochen. Selbst seine Freunde glucksten bereits, aber er nahm Narlas Eskapaden für bare Münze. „Was hast du, Bärchen? Schockt dich das so sehr?“

„Ich … ich … oh je …“ Er legte sich die Hand an die Stirn, aber da konnten die Ersten nicht mehr an sich halten und lachten schallend heraus. „OH NARLA!“ Bis auch der Blondeste unter ihnen es endlich checkte.
 

Chapter 3
 

„Und du sag noch mal, dass Autofahren blöde ist.“ Denn es regnete in Strömen und Yugi hatte nicht grundlos darauf bestanden, dass er Yami mit dem Wagen fuhr und nicht Yami ihn mit dem neuen Motorrad.

„Ach, durch die Lederklamottis kommt nichts durch.“

„Du findest auch immer Widerworte.“

„Wenn’s dir zu nass ist, hättest du auch bei Tato im Auto bleiben können.“

„Mit dem ist auch nichts weiter anzufangen. Der liest doch.“ Er hatte darauf bestanden, die beiden zu begleiten. Beide Pharaonen gemeinsam unbeaufsichtigt zu lassen, war derzeit keine gute Idee. Aber wenn Gefahr drohte, spürte er das auch, wenn er gemütlich im warmen und vor allem trockenen Auto seinen Wälzer zu Ende brachte. Außerdem hatte er Sichtkontakt zum Haus.

Obwohl sie direkt an der Straße parken konnten und Regenschirme dabei hatten, waren sie auf dem kurzen Fußweg dennoch recht feucht geworden. Gestern war es noch brütend heiß gewesen und heute überzog sie eine Gewitterfront. Doch Yami hatte sich in den Kopf gesetzt, heute noch mal mit Finn zu sprechen. Die Sache mit dem Abschiedsbrief konnte er nicht unkommentiert hinnehmen. Was genau er eigentlich von ihm wollte, wusste er selbst noch nicht. Aber er wollte den Kontakt nicht aufgeben. Sich von Finn fernzuhalten, kam gar nicht in Frage - dafür hing er zu sehr an ihm und eine solche Trennung, kratzte außerdem an seinem Stolz als Liebhaber. Und obendrein, Yamis neues altes Ich bestand darauf, immer das zu bekommen, was es wollte. Er wollte sich nicht mehr anderen zuliebe zurückhalten. Das entsprach nicht seinem Charakter. Er hatte Seth verloren, weil er sich selbst untreu geworden war. Jetzt wollte er nicht auch noch Finn verlieren.

Sie retteten sich unter den Dachvorsprung und klappten die windverbogenen Schirme zusammen. Yami drückte die Klingel und lächelte Yugi an.

„Du hast einen Tropfen auf der Nase.“

„Viel schlimmer sind meine nassen Schuhe.“ Yugi wischte sich über die Nase, damit war wenigstens die trocken.

„Ich sage doch: Tragt Leder, Leute.“

„Seto mag kein Leder.“ Er war eben nicht nur Vegetarier, sondern hatte auch sämtliche Ledersachen aus seinem Besitz verbannt. Kunstleder tat es ja auch. Und Yugi machte eben alles mit.

„Ach, früher haben wir nur Leder getragen“ meinte er und lehnte sich an die Wand, blickte ihn liebevoll an. „Wenn wir schon Tiere töten, dann sollten wir auch alles von ihnen verwerten. Der Mensch ist eben ein Raubtier, das ist die Natur.“

„Diskutiere das lieber mit Seto“ seufzte er und strich sich das feuchte Haar zurück. Der Regen kam trotz Schirm mithilfe des Windes überall hin. „Ich bin ja deiner Meinung, aber Seto denkt da moderner. Er meint, wenn die Wissenschaft es möglich macht, müssen keine Tiere mehr getötet werden. Das kann ich irgendwo auch nachvollziehen.“

„Du musst dich ja nicht zwischen unseren Meinungen entscheiden“ meinte er. „Aber nur weil Seto so denkt, muss ich ja nicht auch so denken. Ich finde, dass die natürlich gewachsenen Rohstoffe noch immer die qualitativ besten sind. Was nicht heißt, dass alles andere schlecht ist. Aber wenn man eine Wahl hat, sollte man sie auch treffen.“

„Und ich habe die Wahl getroffen, dass ich keine Wahl treffe. Aber mal was anderes, Yami, hast du uns überhaupt angemeldet?“

„Nein, habe ich nicht. Warum?“

„Es macht keiner auf.“ Er wies auf die Tür, denn trotz der betätigten Klingel öffnete sie sich nicht. „Vielleicht ist Finn ja gar nicht zuhause.“

„Quatsch, da brennt doch Licht im Wohnzimmer.“ Und Finn war Stromsparer. Der ließ das Licht nicht grundlos brennen. Also klingelte Yami noch mal und klopfte zusätzlich. „Yugischatz, wenn er nicht aufmacht, steigen wir durchs Fenster ein.“

„Hast du die schwarzen Masken und die Jutesäcke mit?“

„Ich sagte einsteigen, nicht ausrauben“ grinste er neckisch. „Das machen wir erst, wenn’s dunkel ist.“

„Ich dachte, wir machen andere Sachen, wenn’s dunkel ist.“

„Nee, die mache ich lieber mit Licht“ zwinkerte er ihm zu. „Hast Druck, was?“

„Na ja, Seto ist jetzt schon sechs Wochen weg.“

„Also, ich hatte zwar genug Sex gestern, aber für dich reicht’s noch. Oder willst du nicht doch mal mit in den Club? Die Leute sind echt nett und ab zehn Besuchen kriege ich einen geschenkt.“

„Ich halte immer noch viel von sexueller Treue. Ich kann nicht an Sex denken, während so viel los ist und Seto irgendwo … ich weiß ja nicht mal, was er genau tut.“

„Wir bringen uns bald auf andere Gedanken. Irgendwie fehlen mir die Schäferstündchen mit dir auch. Also die nächste freie und ruhige Nacht gehört uns, okay?“

„Das hört sich doch gut an.“ Auch wenn es ganz natürlich war, dass Yugi bei Setos langer Abwesenheit gewisse Bedürfnisse aufbaute, so hatte er dennoch ein schlechtes Gewissen, an so etwas zu denken. Es war so viel los und er musste sich um so viele Dinge einen Kopf machen - da musste das Liebesleben eben hintenan stehen. Zumal Sex ohne Seto auch nicht wirklich das war, was er sich wünschte. Er wollte eigentlich nur Seto und nur ihn allein. „Aber Yami“ hakte er dennoch leise nach. „Ganz ehrlich … geht es dir wirklich so gut oder verdrängst du, was passiert ist?“

„Nein, ich verdränge nichts“ antwortete er und blickte die geschlossene Tür an. „Ich habe nur beschlossen, dass ich mich nicht mehr verbiegen lasse. Ich habe mich selbst zu lang zurückgenommen. Ich habe mich nicht mehr durchgesetzt. Wenn ich zu meinem alten Ich zurückfinde, dann findet die Welt mich vielleicht auch wieder.“

„Dennoch … das mit Seth …“

„Seth ist nicht mehr der Mann, in den ich mich verliebt habe. Mein Herz tut weh, der Schmerz ist fast übermächtig. Aber ich darf mich davon nicht lähmen lassen. Wenn ich mich von Seth fertig machen lasse, dann habe ich nicht nur gegen ihn verloren, sondern habe auch ihn verloren. Er hat sich selbst in dieser Zeit verloren, ebenso wie ich mich in dieser Zeit verloren habe. Wenn ich mich aber wiederfinde, wer weiß? Vielleicht kann ich ihm dann helfen. Und vielleicht komme ich dann dann bewusst besser mit dieser Zeit klar und Seth muss nicht mehr diese unterdrückte Sehnsucht in mir befriedigen wollen.“

„Unterdrückte Sehnsucht?“

„Ich habe Heimweh“ gab er leise zu. „Das habe ich die letzten Jahre verdrängt, aber jetzt bin ich mir darüber bewusst. Dass Seth so handelt, ist zum Teil auch meine Schuld. Aber eben nur zum Teil. Meinen Teil kann ich sühnen und korrigieren. Aber das kann ich nur, wenn ich mir meiner eigenen Wünsche bewusst bin. Deshalb werde ich in Zukunft mehr auf mich achten und auf das, was mir wichtig ist. Wenn ich Seth über mich stelle, entspricht das nicht der Konstellation wie sie sein sollte. Das weiß ich jetzt und jetzt kriege ich die Kurve, egal wie.“

„Dann muss ich mich nicht um dich sorgen?“

„Nein, müssen tust du das nicht.“ Er drehte sich zu ihm herum und schloss ihn in den Arm, ganz fest. „Aber es tut gut, dass du da bist und dir Sorgen machst. Wenn ich weiß, dass du da bist und aufpasst, kann ich viel freier denken. Danke, Yugi. Danke, dass du immer zu mir stehst. Auch dann wenn ich scheiße drauf und dran bin.“

„Ich kann gar nicht anders“ antwortete er und küsste ihn sanft auf die Lippen, blickte ihm dann in die Augen und strich über sein Kinn. „Die Kosmetikerin hatte Recht. Der Kajal gibt dir einen viel intensiveren Blick. Und du siehst nicht mal schwul aus.“

„Ein bisschen muss ich meine Wurzeln ja behalten“ tat er das ab. „Bitte mach dir um mich keine Gedanken. Wenn es mir schlecht ginge, würdest du das zuerst merken. Aber ich fühle mich befreit. Jetzt, wo ich die Verantwortung für Seths Taten abgelegt habe, kann ich eigene Pläne schmieden.“

„Und die wären?“

„Ich weihe dich ein, sobald ich welche habe.“ Er wusste noch nicht, was er tun wollte. Aber er wusste, dass ihm etwas einfallen würde, wenn seine Gedanken einfach schon mal vorausliefen. Er brauchte Gedanken, keine Bedenken. „So, und jetzt will ich da rein. Finn, du Feigling!“ Er drehte sich um, klingelte und hämmerte an die Tür. „Ich weiß, dass du da bist! Beweg deinen schicken Arsch zur Tür! Los jetzt! Mach auf! Ich hasse es, wenn man mich warten lässt! Mach auf! HAAAALLOOOOO! AUFMACHEN! SOFORT! HERR IVARSSON! TÜR AUF! DU HAST BESUUUUUCH!“

Endlich bewegte sich ein Schatten hinter der huggeligen Glastür und ein Schlüssel klimperte von drinnen. Yamis Geschrei hatte also tatsächlich Effekt. Das mit dem Durchsetzen funktionierte.

Als die Tür aber aufging, stand da nicht Finn, sondern jemand anderes. Zuerst fiel einem das narbige Gesicht auf. Die Oberlippe war längs durchtrennt und ein wenig schief zusammengewachsen. Ein Nasenflügel war auch verzogen. Unmenschlich entstellt war das Gesicht nicht, nur auffällig vernarbt. Aber die hellblauen Augen wirkten durchdringend, streng und allwissend. Als würden sie alles durchblicken, alles wissen, alles kennen. Übernatürliche, wunderschöne, unheimliche Augen. Danach fiel ihm das lange, graue Haar auf, welches glänzend über die Schultern fiel. Aschgrau, obwohl diese Frau offensichtlich jung war. Sie war etwas größer als Yami, aber in etwa so muskulös. Sportlich und durchtrainiert. Sie trug einen dunkelroten Herrenjogginganzug und dunkelblaue Socken aus fester Wolle. Ihre eine Hand hielt einen Hähnchenschenkel fest, die andere die Tür. Sie hatten Finn erwartet und fanden solch eine merkwürdige Frau.

Sie blickte Yami an, er blickte sie an. Beide schienen sich unsicher, aber dann zogen sich ihre Mundwinkel nach oben und ihre mysteriösen Augen bekamen ein helles Strahlen.

„Atemu!“ Ihre Stimme war hell und freundlich, sehr weiblich. Viel sinnlicher als man es ihr zugemutet hätte.

„Loki?“ fragte er überrascht.

„Pharao! Ich hätte dich fast nicht erkannt! Was machst du denn hier?“

„Mir einen Wolf klingeln.“

„Das Wortspiel kannte ich noch nicht“ lachte sie und trat einen Schritt zurück, duckte sich in merkwürdiger Art. „Ich freue mich, dich zu sehen.“

Aber er breitete seine Arme aus und lächelte sie lieb an. „Dann begrüße mich doch, Süße.“

„Atemu!“ Das tat sie auch. Sie fiel ihm in den Arm und kuschelte sich an ihn. Ebenso wie er sie fest drückte. Nur merkwürdig, dass sie dabei noch immer einen fettigen Hähnchenschenkel festhielt. Nach einem tiefen Seufzen öffnete sie die Augen und sah über Yamis Schulter Yugi an. Misstrauisch, vielleicht sogar ein Stück drohend.

„Hi“ lächelte er und hob friedvoll die Hand. Sie sah aus als wolle sie ihn jeden Moment auffressen.

„Das ist mein Yugi“ erklärte Yami und ließ sie los, um ihn vorzustellen. „Yugi, das ist Loki. Finns ältere Schwester.“

„Ach, das ist der andere Pharao“ bemerkte sie und verbeugte sich schnell. „Bitte entschuldigt, ich hatte Euch nicht erwartet und auch irgendwie größer in Erinnerung.“

„Aha.“ Na super. Nur vor dem Krankenhaus hätten sie sich ein Mal kurz sehen können, aber schon da hatte sie mehr Augen für Yami gehabt. Und da sie ihm damals nur bis zum Oberschenkel ging, hatte sie ihn natürlich größer in Erinnerung.

„Können wir reinkommen, Schatz?“

„Klar, wenn ihr wollt.“ Sie trat zurück und ließ die beiden herein, schmiss die Tür krachend hinter ihnen zu.

„Loki, warum machst du denn nicht auf, wenn man klingelt?“ Er könnte jetzt noch da draußen stehen, wenn er nicht so ein Theater gemacht hätte.

„Keinen Bock auf Besuch“ antwortete sie und biss in ihren angenagten Hähnchenschenkel. „Wuschte ja nisch, dasch du dasch bischd.“

„Schmeckt’s?“

„Hm. Wolld ihr au?“ Sie ging ins Wohnzimmer, aber da Yami Finn und dessen Reinlichkeitsfimmel zu gut kannte, zog er sich die Schuhe aus, bevor er ihr folgte und Yugi tat es ebenso. Drinnen angekommen, legten sie ihre Jacken über das Sofa und fanden ein wahres Chaos vor. Auf dem Tisch lagen Unmengen von Fressalien in aufgerissenen Packungen inmitten von einem Berg Hähnchenschenkeln und Chickenwings gemischt mit Bratwürsten. Da war diverser Aufschnitt über Schinken und Leberwurst bis hin zu mehreren Käsesorten wie Gouda und Camembert. Chips und Erdnüsse waren in verschiedenen Sorten vorhanden und nur die Eispackung war leer gefuttert. Mit der vielen Cola und dem Wein sah es aus wie nach einer Party.

„Was ist das denn?“ lachte Yami. Ihm gefiel der Anblick, während sich bei Yugi alles umdrehte.

„Meine Freizeitgestaltung, wenn Finni nicht hinguckt“ antwortete sie und griff nach einer Scheibe Salami, welche sie geschickt zusammenrollte, bevor sie in ihrem Mund landete. „Schetscht eu, ihr griegt waschab.“

„Das lasse ich mir nicht zweimal sagen!“ Yami stieg gleich drauf ein, nahm das Nougatglas und eine Bratwurst und setzte sich zu ihr auf die Couch.

Yugi hingegen nahm den Sessel und damit Abstand von dieser Völlerei mit kombinierter Magenverstimmung.

„Ich wusste gar nicht, dass du so viel Geschmack beim Essen hast“ lobte Yami und schob sich die kalte Wurst rein.

„Als Mensch kann ich problemlos alles essen. Hab einen Magen aus Stahl“ erzählte sie und nahm die Colaflasche.

„Stimmt, ich habe dich noch nie als Menschen gesehen. Wie lange bist du noch so?“

„Noch ein oder zwei Tage. Wenn sich die Wolken verziehen etwas länger. Neumond ist voll mein Ding. Ich liebe es, Mensch zu sein.“

„Wegen des Essens?“

„Nein, Cola. Ich liebe Cola, aber Finn rückt sie nicht raus, weil ich mich sonst übergebe. Als Tier vertrage ich Zucker nicht so gut. Aber bei Neumond komme ich an den Schlüssel für die Vorratskammer ran und mein Bruder denkt sich nur leichte Verstecke aus.“

„Schlaues Mädchen.“ Er biss noch mal von der Bratwurst ab und blickte Yugi an. Aber der schüttelte nur den Kopf und lehnte sich in den Sessel zurück. Die ganze Fresserei war ihm unheimlich. „Du, Lokischatz, sag mal … wo ist denn Finn?“

„Einkaufen mit Herbert.“

„Herbert?“

„Nachbar“ zeigte sie nach hinten. „Wir haben doch kein Auto. Und Schokolade hatten wir auch nicht mehr, also musste er einkaufen gehen.“

„Mit Herbert.“

„Jupp, mit Herbert“ erwiderte sie zwischen zwei Schlucken. „Er nimmt Finn mit in die Stadt und der schleppt ihm die Getränkekisten. Herbert hat Rücken.“

„Du gehst nicht gern in die Stadt, oder?“

„Nicht wirklich. Als Wolf kleben mir die Haushunde am Arsch und als Mensch gucken mich alle blöd an. Da habe ich hier mehr Spaß. Und solange Finni weg ist, kann ich machen, was ich will.“

„Ist nicht einfach du zu sein, oder?“

„Ich kenne es ja nicht anders. Kann’s mir auch nicht anders vorstellen.“ Finn hatte nicht gelogen, sie hatte es härter erwischt. Er selbst trug nur Narben, die man verdecken konnte, aber ihre waren mitten im Gesicht und vermutlich noch mehr am Körper. Der Zirkel hatte seine Zeichen auf ihr hinterlassen. Und so gezeichnet zwischen die Menschen zu gehen, brachte sicher noch mehr Leid mit sich als in Wolfgestalt die verzogenen Stadthunde anzuknurren und bei seinem Bruder an der Leine geführt zu werden. Deshalb war Finn so unsagbar lieb und geduldig zu ihr, er fühlte sich in der Pflicht, ihr etwas von dem zu geben, was für ihn selbstverständlich war.

„Hast du denn keine Freunde, Loki?“

„Mir geht’s gut, Pharao. Ehrlich“ betonte sie und zog mit ihren schiefen Lippen ein Lächeln. „Mir fehlt nichts.“

„Wirklich nicht? Bist du nicht ein bisschen einsam?“

„Guck mich doch mal an. Welcher Mann würde schon mit mir ausgehen? Ich sehe aus wie Quasimodos Braut und Manieren habe ich auch nicht. Aber noch weniger Lust habe ich, mich zu verstellen.“

„Bist halt ein Wolf. Aber ich finde dich spontan klasse. Du bist voll nach meinem Geschmack.“

„Du bist ja auch nicht normal“ tat sie das ab. „Nein, mir geht’s echt gut. Mir fehlt nichts. Ich bin gern allein und Hunde mag ich eh nicht. Und Menschen noch weniger.“

„Weil sie dir weh getan haben?“ Sie blickte ihn an, ihre hellblauen Augen wurden leer, bevor sie fortblickte und einen kräftigen Schluck Cola nahm. „Entschuldige, das war etwas direkt, oder?“

„Finn hat dir doch erzählt, dass wir nichts von früher wissen. Ich weiß nicht warum es so ist, aber ich mag einfach keine Menschen. Bis auf ein paar. Toni mag ich zum Beispiel sehr. Oder seine Schwester Antonella. Aber so im Allgemeinen bin ich schnell genervt. Menschen wollen sich immer gleich binden und hauen bei den ersten Schwierigkeiten ab. Habe ich doch bei Finns Weibern gesehen. Ich habe da keinen Bock drauf. Da bleibe ich lieber gleich allein. Für dich vielleicht komisch, aber ich finde mein Leben okay. Bei Wölfen gibt’s auch Einzelgänger und mein Bruder ist mir Gesellschaft genug.“

„Wenn du dich so wohlfühlst, ist es natürlich in Ordnung. Ich wollte dir jetzt keine doofen Fragen stellen oder sonstwas.“

„Du erforschst gern das Leben von anderen Leuten, was?“ Jetzt schmunzelte sie ihn an, neckte ihn mit ihrem hellen Blick.

„Ich interessiere mich sehr für Menschen und ihre Geschichten“ bestätigte er und kaute auf Nutellawurst herum. „Und ich freue mich sehr, dich jetzt auch mal als Menschen zu sehen.“

„Und? Bin ich so wie du gedacht hast?“

„Nein, überhaupt nicht“ schmunzelte auch er. „Du bist viel cooler.“

„Inwiefern?“

„Du siehst so locker aus. Ist das Finns Jogginganzug?“

„Ja. Ich mag seinen Geruch. Und deswegen findest du mich cool? Weil ich die Klamotten meines Bruders trage?“

„Ja, nicht nur. Du redest frei raus und hast dieselbe Fresslust wie ich. Außerdem hast du hübsche Brüste.“

Yugi verschluckte sich an diesem Satz, aber Loki brachte das zum Lachen. „Willste mal anfassen?“

„Wenn du mich lässt.“

„Nö“ grinste sie frech. „Erst musst du mit mir ausgehen, dann darfst du vielleicht mal anfassen.“

„Ich denke, du gehst nicht gern aus.“

„Bei dir würde ich eine Ausnahme machen.“ Und schon hatte er sie angesteckt. Yugi war soeben Zeuge von Yamis uraltem Charme geworden. Er redete genau so, dass sie ihn verstand und lockte sie aus ihrem Schneckenhaus. Wenn er eines konnte, dann Menschen einschätzen und für sich gewinnen. Und das funktionierte sogar bei Einsiedlern wie der gequälten Loki. Er musste nur einfach er selbst sein.

„Super, dann haben wir nächsten Neumond ein Date?“ unterstellte er einfach mal.

„Du holst mich um acht Uhr ab“ nickte sie und griff nach einer neuen Scheibe herzhafter Salami. „Aber sag mir vorher, was du vorhast. Nur damit ich mich entsprechend anziehe.“

„Nein, wir machen es andersrum. Du sagst mir, was du anziehen willst und ich überlege mir …“ Er wurde von der Klingel unterbrochen. Es klingelte nicht nur ein Mal, nicht zwei Mal, sondern gleich drei Mal hintereinander. Aber Loki interessierte sich nicht weiter dafür. Ihr Ziel bestand darin, noch heute die Salamipackung leer zu machen. „Willst du nicht aufmachen?“

Da klingelte es schon wieder, nur ein Mal und es klopfte. Na ja, ein Klopfen war es nicht. Es hörte sich eher danach an als würde jemand leicht gegen die Tür treten.

„Nö“ schmatzte Loki und guckte die Tür nicht mal an.

„Klingt aber als würde da jemand dringend reinwollen.“

„Das ist klein Finn“ erklärte sie und tunkte die Salami in den Senf. „Drei Mal klingeln ist Familienklingeln.“

„Machst du ihm nicht auf?“

„Hat doch einen Schlüssel.“ Ja ja, das war Geschwisterliebe.

„Dann mache ich auf. Das kann man ja nicht mit anhören“ meinte Yugi, aber wurde von Yami zurück gewunken, denn der stand selbst auf.

Mit eiligen Schritten war er an der Tür, wo auch bereits ein Schlüsselbund klirrte und ein Kratzen an der Tür ertönte. Als Yami aufmachte, sah er Finn nicht mal, sondern nur eine riesige Packung mit einer Carrera-Bahn, die er auf dem Knie und an der Stirn balancierte, während er in der einen Hand drei volle Plastiktüten und seinen Schlüssel hielt, in der anderen zwei Getränkekisten. Und er stand da wie der Turm zu Babylon, der jeden Moment unter seiner eigenen Last zusammenfiel.

„Was hast du getrieben so lange? Ich bin pitschenass.“ Er quetschte die Autobahn zwischen seine eh schon vollen Arme, drückte sich schwer beladen nun seitwärts durch die Tür, sodass Yami nur sprachlos rückwärts gehen konnte. Noch bevor er ganz drinnen war, schlüpfte der Hausherr aus den dreckigen Schuhen und drängelte sich weiter ins Wohnzimmer. „Wärst du wohl so gütig und nimmst mir mal was ab?“

„Warum?“ fragte sie von der Couch aus.

„Damit ich wenigstens was sehen kann! Der Großteil von dem, was ich schleppe, ist für dich, Sissi.“ Doch eine Antwort durfte er nicht wirklich erwarten. Dafür nahm Yami ihm zumindest den riesigen Karton mit dem elektrischen Spielzeug ab und stellte ihn an den Rand. Finn schob die Getränkekisten mit dem Fuß an die Seite und schniefte. Er war ohne Regenschirm so richtig übel nass geworden. Doch das war auch nicht mehr wichtig als er sich wieder aufrichtete und Yami erblickte. Er zwinkerte und man sah ihm seine Überraschung ins Gesicht gemalt wie Picasso es nicht besser hätte schaffen können.

„Seit wann spielst du mit elektrischen Autos?“ lächelte er ihn fröhlich an.

„Ist nicht für mich“ antwortete er überrumpelt.

„So? Für wen denn dann?“

„Für den Nachbarsjungen zum Geburtstag. Ist etwas groß, um es bei seinen Eltern zu verstecken. Was machst du hier?“

„Dich unheimlich niedlich finden.“ Finn war einfach zu süß so verplant wie er guckte. Da hätte sich selbst Seto als Verplanung in Übergröße noch ein Beispiel dran nehmen können. „Loki hat uns reingelassen“ erklärte er als nichts weiter kam.

„Ach so. Na gut.“ Er war zu höflich, um etwas anderes zu tun oder zu sagen. Erst mal stellte er die Tüten auf den Tisch und zog sich die nasse Jacke aus. Da diese aber aus Stoff war, blieb er darunter nicht wesentlich trockener. Und Yami konnte nicht anders als auf schlimme Gedanken zu kommen. Das nasse Shirt klebte an diesem wunderbaren Oberkörper. Schade, dass es rot war und nicht weiß - oder entsprechend transparent. „Guten Tag, Yugi“ grüßte er höflich als er den auf dem Sessel sitzen sah.

„Hallo Finnvid“ lächelte der zurück und stand kurz auf, als Finn ihm entgegenkam und die Hand hinhielt. „Entschuldige bitte, dass wir uns nicht vorher angekündigt haben.“

„Nein, kein Problem. Ich freue mich über Besuch.“ Was eigentlich nicht stimmte, er bekam ungern Besuch in seinem Privathaus. Er drehte sich herum und legte Loki im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. „Alles okay bei dir?“

„Hm“ nickte sie, aber kaute beharrlich weiter.

„Musstest du gleich den ganzen Kühlschrank ausräumen?“

„Hm.“

Ein Wunder, dass er so lieb zu ihr war, obwohl sie ihn behandelte wie ihren persönlichen Diener. Aber er schien ihr das nicht mal übel zu nehmen. Sie moserte ihn an, dafür dampfte er ein bisschen vor sich hin, alles super.

„Na ja, kann ich …“ Er rieb sich die klammen Hände und blickte zwischen Yami und Yugi hin und her. „Kann ich irgendwas für euch tun, oder …?“

„Was oder?“ fragte Yami ernst nach. „Ich wollte gern noch mal mit dir sprechen.“

„Das … ähm … das passt gerade etwas schlecht. Ich muss noch mal … rüber zum Nachbarn. Ihm helfen bei … Reparaturen und so was.“

„Red keinen Scheiß“ schmatzte seine große Schwester von hinten. „Wenn du lügst merkt das ein Blinder mit nem tauben Hund, selbst wenn beide geisteskrank sind.“

„Das überlass mal mir, ja?“

„Wenn du den Pharao anlügen willst, bitte sehr.“ Sie wusste wie sie ihn traf. Er war dem Pharao treu ergeben, verehrte ihn geradezu. Und ihn anzulügen, fiel ihm wahrscheinlich schwerer als Yami es fiel, diese Lüge zu bemerken. „Wenn du die Einkäufe weggeräumt hast, solltest du dich umziehen. Du hast schon ne Gänsehaut, Kleiner.“

„Hast du den Pharaonen wenigstens etwas angeboten?“

„Atemu ist schon beim Essen. Pharao Yugi wollte nicht.“

„Ich meine, hast du ihnen etwas anständiges angeboten? Hast du Kaffee aufgesetzt oder Tee gemacht?“

„Danke, uns geht es bestens“ beruhigte Yugi mit sanfter Stimme. „Geh dich doch erst mal umziehen, bevor du dich erkältest.“

„Bitte sag es, wenn du etwas brauchst“ bat er noch mal nachdrücklich.

„Es ist alles prima, Finnvid. Danke schön. Loki war sehr nett zu uns.“

„Na gut, dann …“ Dann würde er gern erst mal auf eine einsame Insel reisen und sich von Kokosnüssen ernähren. „Dann gehe ich mich schnell umziehen.“

Er senkte den Blick und ging geduckt an Yami vorbei. Er konnte ihm einfach nicht in die Augen sehen.

„FINN!“ rief Loki, bevor er noch ganz auf der Treppe war. „Mach Feuer im Kamin!“

„Gleich.“

„Mir ist kalt!“

„Dann dreh die Heizung an.“ Er wollte jetzt nicht zurücklaufen, nur schnell die Treppe hoch und sich fangen.

„Nein, ich will dem Kamin zuhören! Mach ihn an!“

„Nimm den Grillanzünder oder warte auf mich! Du machst mich fertig.“ Er war schon oben und wollte eigentlich nur weg und jetzt nicht ihren Butler mimen.

„Finnvid Rominter! Deiner großen Schwester ist kalt! Mach den Kamin an!“ Und sie wollte nun mal ein gemütliches Nachmittagsfeeling.

So sehr er es auch versuchte, er würde sich so bald nicht gegen sie behaupten können. Also zischte es im Kamin, es rauchte, mit einem Pochen brannten die Holzscheite darin und sie hatte wieder einmal ihren Willen bekommen.

„GEHT DOCH!“ Das Worte danke kannte sie auch nicht. Seine Antwort war eine leise zugehende Tür und sie konnte sich wieder ihrer Antidiät-Kampagne widmen.

„Er kann Feuer machen ohne richtig hinzusehen“ würdigte Yugi erstaunt diese scheinbar leichte Aktion. „Wow.“

„Die einen Sachen fallen ihm leicht, andere eben nicht“ erwiderte sie und betrachtete mitleidig die Chipstüte. Auch wenn sie diese wohl nicht meinte. „Eure Anwesenheit bringt ihn ziemlich aus dem Konzept.“

„Hat er was gesagt?“ fragte Yami vorsichtig nach. Er war noch nicht ganz dahinter gestiegen wie eng das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden in Bezug auf solche Dinge war. Und er wollte auch nichts ausplappern, was ihm vielleicht unangenehm wäre.

„Nein. Das braucht er nicht“ antwortete sie und sah aus dem Fenster. „Ich weiß was da zwischen euch gelaufen ist. In dieser Vollmondnacht.“

„Oh.“ Also wusste sie mehr als sie durchscheinen ließ. „Aber gesagt hat er dir nichts, oder? Oder hat er mal was gesagt in Bezug auf mich?“

„Du willst nicht ernsthaft von mir wissen, was du tun sollst, oder?“ fragte sie und blickte ihn durchdringend an mit ihren hellblauen Augen.

„Das nicht. Aber du kennst ihn doch viel besser als ich. Wie kann ich ihm klarmachen, dass er keine Angst vor mir haben braucht?“

„Er hat keine Angst vor dir, sondern vor sich selbst“ erwiderte sie und faltete die Hände in ihrem Schoß. „Dass er sich in dich verliebt hat, habe ich geahnt, noch bevor er dich mit hierher brachte. Ich habe ihn noch niemals so gesehen. So träumerisch und so nachdenklich. Wärst du eine normale Frau, hätte er sich vielleicht schon an dich rangemacht. Aber du bist der Pharao und somit unantastbar. Davon abgesehen, bist du ein Mann und Finn ist wirklich nicht der Typ für solcherlei Neigungen.“

„Und deshalb hat er beschlossen, mich zu meiden? Nur weil ich der Pharao bin und zufällig auch noch männlich?“

„Nein, du weckst Gefühle in ihm, die er nicht haben möchte“ antwortete sie ihm sehr genau. „Finns erste Freundin, Belinda, war in einer festen Beziehung, aber er liebte sie trotzdem. Sie sagte ihm dann, sie habe sich freundschaftlich von dem anderen getrennt. Über ein Jahr lang waren sie zusammen bis er herausfand, dass sie sich niemals von ihrem anderen Freund getrennt hatte und er nur der Lückenfüller war, wenn sie sich einsam fühlte. Er wollte etwas Ernstes und sie hat ihn voll verarscht. Ich mochte sie nie, aber Finn hat sie geliebt. Letztlich hat er sie vor die Wahl gestellt und sie hat den anderen genommen. Das hat ihm das Herz gebrochen.“

„Aber ich bin nicht Belinda. Ich lüge ihm doch nichts vor. Er weiß doch von Seth!“ Das würde er niemals tun. In solchen Dingen spielte er immer mit offenen Karten. Finn wusste doch genau um Yamis derzeitige Partnerschaft.

„Aber Finn ist bisher mit jeder Liebschaft auf die Schnauze geflogen. Besonders mit Nancy. Die Tusse wollte er sogar heiraten und dass sie ihn wegen seiner Schlafwandelei hat sitzen lassen, hat ihn echt fertig gemacht. Er ist eh schon sehr introvertiert und dann kommst du. Dich auf diese Art zu lieben, grenzt an Gotteslästerung und davon abgesehen, weiß er wie hoffnungslos es ist. Du liebst doch deinen Priester mehr als alles andere. Ihr seid beide alte Seelen mit einer großen Vergangenheit. Und er ist nur ein kleiner Vorstadtmagier. Er kann da nur verlieren.“

„Seth ist nicht mehr mein Priester. Ich habe mich von ihm gelöst“ sagte Yami fast erbost. „Und nur weil ich Seth liebe, heißt das doch nicht, dass ich Finn nicht auch … dass Finn nicht trotzdem etwas Besonderes für mich sein kann.“

„Was sagst du das mir?“ fragte sie und sah ihn intensiv an. „Ich bin nicht derjenige, in den du dich verliebt hast. Wenn du mit Finn zusammensein willst, musst du Finn das sagen. Und nicht seiner großen Schwester.“ Sie kam sehr schnell auf den Punkt und das ebenso schonungslos. Aber Klartext war das, was Yami am liebsten hatte und wahrscheinlich auch das einzige, was hier noch half. „Also erwiderst du die Liebe meines Bruders jetzt oder nicht?“

„Ich … na ja …“ Wenn er das so genau wüsste, dann fiele ihm manches leichter. Aber wäre er denn hier, wenn Finn ihm nichts bedeuten würde? Er sah Yugi an, aber der seufzte nur leise. Er konnte ihm ja auch nicht vorsagen, was er fühlte. „Aber was wäre denn, wenn ich … wenn ich mich auch in Finn verliebt hätte?“

„Was dann wäre?“ fragte Yugi sanft. „Dann hast du dich verliebt. Auf so etwas hat man keinen Einfluss. Nur wie du damit umgehst, das musst du wissen.“

„Ich … wenn ich ihm fernbleiben könnte, dann … dann wäre ich ja nicht hier.“ Das wusste er, aber dann auch nicht mehr. Er war mal wieder ohne Plan gestartet …

„Yami, das musst du allein wissen“ musste Yugi ihn enttäuschen. „Was auch immer du machst, ich stehe hinter dir. Aber denk auch an Finn. Tue ihm nicht unnötig weh, nur weil du unentschlossen bist.“

„Ich hasse es, unentschlossen zu sein“ sagte er zu sich selbst und ballte unbewusst die Fäuste. „Vielleicht fühlt es sich nur deshalb anders an, weil Finn nicht Seth ist. Bisher habe ich nur Seth geliebt … aber Finn ist …“

„Finn ist nicht Seth.“

„Nein, das ist er nicht. Finn ist … anders.“ Und deshalb auch die Gefühle, welche er in ihm weckte. Er wusste bisher nur wie es sich anfühlte, einen einzigen Mann zu lieben. Aber jetzt eine neue Liebe zu spüren, eine andere … natürlich fühlte es sich anders an. Vielleicht war es auch dieses Gefühl, welches ihn stark machte. Hätte er sich jemals von Seth lossagen können, wenn er Finn nicht getroffen hätte? Mit Finn sah er wieder einen Sinn in dieser Welt, etwas Schönes, etwas was seinen Tag lebenswert machte. Mit Finn zusammen zu sein war so leicht, so prickelnd und so befriedigend. Wenn Finn da war, wirkten alle Probleme so belanglos. Finn machte ihn frei. Finn machte ihn zufrieden. Finn gab ihm das Gefühl von Leben. Und von Liebe.

Nach kurzem Zögern drehte er sich auf dem Absatz um und sprang die Treppe hinauf. Er wusste jetzt, dass er dieses Gefühl nicht aufgeben wollte. Er liebte ihn und er wollte mit ihm zusammensein. Ein Pharao kämpfte für das was er wollte und selten lohnte sich ein Kampf so sehr wie dieser hier. Er würde sich Finns Herz erkämpfen und es niemals wieder loslassen.
 

Der Kampf gegen die eigenen Triebe jedoch begann gleich an der Schlafzimmertür. Er ging direkt hinein und wäre fast zu spät gewesen. Finn nahm sich gerade eine frische Jeans aus dem Kleiderschrank, womit der Blick auf seinen knackigen Körper noch frei war. Schade dass er eine schwarze Short trug, aber sonst: „Lecker.“

„Ähm …“ Der Halbnackte lief rot an, schlug die Hose auf und schlüpfte schnell hinein.

„Sorry, ist mir rausgerutscht.“ Er wusste zwar, dass es Finn nicht unangenehm war, wenn man die langen Narben auf seinem Körper sah, aber es war ihm durchaus unangenehm, wenn man ihn halb nackt erwischte. Yami vergaß manchmal, dass nicht jeder so freizügig dachte.

„Ist unten was passiert?“ fragte er und knöpfte sich die Hose zu. An seinen Händen jedoch sah man wie nervös er war. Er kriegte die kleinen Metallknöpfe kaum durch die Löcher gefummelt.

„Nein, ich wollte allein mit dir sprechen.“ Yami setzte sich aufs Bett und sofort ereilten ihn schauerlich schöne Gedanken. In diesem Bett hatte er sich so gut gefühlt. So gut wie lang nicht mehr. Mit Finn zu schlafen, war so erfüllend, so zärtlich und so heiß. Und am nächsten Morgen fühlte er sich ruhig und gereinigt. Wenn Finn sich doch nur auch daran erinnern könnte.

„Der Wagen da draußen.“ Finn zeigte aus dem Fenster, an welchem die Regentropfen herabliefen. „Ist das eurer?“

„Der silberne Jeep?“

„Japp.“

„Das ist Yugis.“ Er musste nicht mal hinsehen, um zu wissen welches Auto gemeint war. Draußen auf der Straße stand ja nur das eine. „Warum? Stehen wir im Parkverbot?“

„Nein, da sitzt jemand drin.“

„Das ist nur Tato“ beruhigte er. „Er hatte keine Lust auf Regen und bleibt lieber im Wagen. Mit irgendeinem Buch für Oberschlaue.“

„Langweilt ihn das Warten nicht?“ Finn drehte sich herum und ging zurück zum Kleiderschrank. Schade, wahrscheinlich wollte er sich auch noch ein Shirt über diesen tollen Rücken ziehen. „Ihr könnt ihn doch hereinbitten.“

„Tato geht’s gut. Wenn er seine Ruhe hat und wir in der Nähe bleiben, kann er da noch stundenlang rumhängen. Drachen sind geduldige Viecher.“ Um Tato machte Yami sich weniger Sorgen als um Finn. Der musste doch ahnen weshalb er hier war, doch er suchte händeringend nach anderen Themen. „Und wie geht’s dir?“

„Bestens. Loki futtert mir die Haare vom Kopf, aber sonst.“

„Ach, dafür sieht deine Frisur doch noch ganz gut aus.“ Etwas sehr zerzaust zwar, aber das tat dem Glanz seines dunkelroten Haares keinen Abbruch.

„Sobald ich wieder trocken bin vielleicht.“ Er fuhr sich den nassen Pony aus dem Gesicht und zog sich zu Yamis Enttäuschung nicht mal ein Shirt, sondern gleich einen Wollpullover an. Er war zwar dünn genug, dass man seine Statur noch erkennen konnte, doch das meiste war nun verdeckt. Warum nur mussten Feuermagier sich ständig so warm einpacken? „Du hast dich aber auch verändert, Pharao.“

„Ah, es ist dir aufgefallen.“ Er lehnte sich gemütlich zurück und lächelte ihn an. Auch wenn Finn vorgab, irgendetwas im Schrank zu kramen.

„Ist ja schwer daran vorbei zu gucken.“

„Ich meine, weil du mich kaum ansiehst.“ Finn wich jedem Blick aus, egal wie direkt Yami ihn ansprach. Es war traurig.

„Tut mir leid.“ Er zögerte einen Moment, doch dann schloss er die Schranktür und begab sich zur Tür. „Ich muss die Einkäufe wegräumen und mich um Loki kümmern. Entschuldige, wenn ich etwas kurz angebunden bin.“

„Du kannst dir doch denken, warum ich hier bin. Warum weichst du mir aus?“

„Wir können später reden. Wenn ich weniger im Stress bin.“ Er wollte die Tür öffnen und unelegant fliehen, doch nicht mit dem alten Pharao.

Der erhob sich und hielt ihn, noch bevor er die Türklinke ganz hatte herunterdrücken können. Er schlang seine Arme um Finns Bauch, drückte sich an seinen Rücken und spürte den muskulösen Körper unter der Baumwolle. Finn war ganz warm, obwohl er durchgefroren war. „Verdammt, ich liebe Feuermagier.“

„Atemu, bitte.“ Finns Stimme wurde leise, zitterte ein wenig. „Lass mich los.“

„Nein, ich will nicht. Ich will dich spüren.“

„Ich muss runter zu Loki.“

„Loki ist bei Yugi gut aufgehoben. Jetzt bleib einfach mal hier.“ Und damit kehrte Stille ein. Finn erstarrte im Stand und hielt die Hand an der Klinke, während Yami die Arme um seinen Bauch geschlungen hielt und ihn nicht gehen ließ. Er wollte, dass er sich beruhigte und sich vielleicht endlich für ein klärendes Gespräch öffnete. Er spürte, wenn er Finn jetzt gehen ließ, dann würde er ihn kein zweites Mal einfangen.

„Hast du … meinen Brief gelesen?“ fragte er nachdem einige Momente vorbeigezogen waren.

„Das habe ich“ bestätigte Yami mit milder Stimme.

„Dann kannst du dir denken, dass … dass mich das hier … verletzt.“

„Nein, du hast mich verletzt“ sagte er im Gegenzug. „Denkst du, ich nehme es einfach so hin, dass du mich abschiebst?“

„Ich wollte dich nicht abschieben, aber ich …“

„Aber du was?“

„Du hast es doch gelesen. Atemu, lass mich bitte los.“

„Nur wenn du versprichst, dass wir miteinander reden. Und dass du nicht davonläufst.“

„Ich weiß nicht, was es da noch zu reden gibt. Ich … wollte dich nicht beleidigen, aber ich … Atemu, ich fühle mich sehr schlecht. Bitte lass mich.“

„Wenn du wegläufst, sobald ich dich loslasse, dann halte ich dich die nächsten Jahre so fest. Ich lasse mich von dir nicht einfach abschieben, nur weil du mit deinen Gefühlen nicht klarkommst.“

„Aber ich …“ Was sollte er ihm denn noch sagen? Er konnte sich nicht mit Gewalt losreißen, es war immerhin der Pharao, der ihn festhielt. Aber wenn er noch länger diese angenehme Umarmung fühlte, sprang sein Herz entzwei. „In Ordnung, wir reden. Aber bitte lass mich los.“

„Schade. Ich habe gehofft, du zierst dich noch eine Weile.“ Aber aufgrund seines Versprechens musste er loslassen. Er trat sogar einen Schritt zurück und da Finn sich noch immer nicht bewegte, setzte er sich aufs Bett zurück und wartete.

Dann erst konnte sein Opfer durchatmen und sich langsam umdrehen. Endlich trafen sich ihre Blicke, doch diesmal wurde ihm schwer im Herzen. Finns dunkelbraune Augen waren feucht und traurig, furchtsam. Er tat sich schwer mit Gefühlen und Yami wusste das. Es marterte ihn, dass er alles noch mal durchsprechen musste, was er doch so mutig zu Papier gebracht hatte.

„Entschuldige.“ Finn drehte sich weg und wischte sich schnell über die Augen, atmete tief ein.

„Was ist?“ fragte er gedämpft. „Was bringt dich so durcheinander?“

„Dein Blick. Du wirkst … stärker als vorher.“

„Ich bin stärker. Meine Augen sind jetzt offen für die Welt. Und auch offen für dich. Deshalb ist es mir sehr wichtig, dass wir beide noch mal miteinander sprechen.“

„Was willst du mir denn sagen?“ Finn blieb mit abgewandtem Kopf neben der Tür stehen, schien als wolle er jeden Moment fortlaufen. Auch wenn er das natürlich nicht tun würde, aber er wollte es.

„Komm erst mal her. Setz dich zu mir.“ Er streichelte den Platz neben sich und wartete einige Sekunden bis ihm endlich Folge geleistet wurde und Finn ließ sich bedächtig neben ihm auf der Tagesdecke nieder. Er schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Ganz klare Abwehrhaltung. „Finn, hör zu.“ Er fasste seine Hand und stellte fest, dass sie noch immer klamm war. Leicht feucht und viel zu kalt für ihn. Armer Finn. „Du hast dich in mich verliebt, ja?“

„Sieht so aus“ antwortete er, wobei seine Worte mehr ein Flüstern waren. „Es tut mir leid, Pharao. Das hätte mir nicht passieren dürfen.“

„Sich zu verlieben, ist doch keine Sünde. Es muss dir nicht leid tun.“

„Ich weiß, dass ich mich nicht immer gut im Griff habe, wenn es um so etwas geht. Deswegen wollte ich Abstand nehmen und … ich habe gehofft, du würdest das akzeptieren.“

„Das tue ich nicht wie du siehst.“ Er lächelte sachte, auch wenn das gar nicht gesehen wurde. Finn musste es in seiner Stimme hören. „Es ist doch nichts dabei. Ich fühle mich glücklich und geehrt, dass du mir diese Gefühle entgegenbringst.“

„Aber ich … ich weiß nicht … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Sag einfach was in deinem Kopf ist.“

„Das sagst du so leicht.“ Er musste noch mal tief atmen und genug Mut sammeln, um das hier durchzuziehen. „Ich wollte nicht, dass du mitbekommst, wie ich empfinde. Wärst du in jener Nacht nicht hier geblieben, hätte ich es vielleicht durchgehalten. Aber so … Atemu, es fällt mir sehr schwer, dir jetzt noch nahe zu sein.“

„Warum? Ist es weil ich der Pharao bin und du dich mir nicht ebenbürtig fühlst? Oder weil ich ein Mann bin und du unsere körperliche Nähe als schmutzig empfindest? Oder hast du einfach Angst, dass ich dir wehtue? Dass ich dich ablehne?“

„Es ist alles zusammen.“ Er zog seine Hand weg und stützte stattdessen seine Stirn hinein. „Atemu, ich bin verwirrt. Du bist der Pharao und ich dürfte dich eigentlich nicht mit meinen eigenen Problemen belasten. Abgesehen davon, habe ich niemals so für einen Mann gefühlt. Das ist doch nicht normal, einen anderen Mann so zu begehren.“

„Du hast Angst vor dem Schwulsein“ unterstellte Yami ruhig. „Das ist doch nichts schlimmes. Deine Sexualität bestimmt doch nicht dein Leben. Sex bereichert das Leben. Wenn du dich auf nur das weibliche Geschlecht beschränkst, halbierst du das Glück, dass dir zustehen kann.“

„Du kannst das vielleicht so bedenkenlos hinnehmen, aber für mich ist das alles andere als leicht“ sprach er und Yami hörte wie sich die Tränen in seiner Stimme sammelten. „Selbst wenn du kein Mann wärst, du liebst einen anderen. Du hast bereits einen Partner. Einen, dem ich niemals das Wasser reichen könnte.“

„Du glaubst, es ist sinnlos, weil ich Seth liebe?“

„Du wirst irgendwann fortgehen. Und dann werde ich dich wieder verlieren. Das halte ich nicht aus. Das habe ich doch alles schon geschrieben.“ Er verzweifelte langsam. Jetzt riss er schon an seinen Haaren. „Pharao, ich will jetzt bitte gehen.“

„Nein, so trenne ich mich nicht von dir.“ Er rutschte zu ihm auf und nahm erst mal seine fahrigen Hände herunter. Dann wischte er ihm übers Gesicht und entfernte die kleinen Tränen, die er nicht hatte zurückhalten können. Er legte seine Handflächen an die geröteten Wangen und zog seinen Kopf heran, schmiegte ihre Stirn aneinander. „Finn, hör zu. Du hast Recht, ich liebe Seth. Trotz allem was er tut, liebe ich ihn. Aber ich habe eingesehen, dass er nicht mehr derselbe Mensch ist. Der Seth, der uns bedroht, das ist nicht mein Seth. Das ist nicht der Mann, den ich liebe. Ich möchte hier auch gar nicht über Seth sprechen, sondern über uns. Über dich und mich. Denn auch ich habe Gefühle für dich.“

„Ich bin ein Nichts gegen ihn“ wisperte er geschlagen. „Ich kann niemals mehr sein als dein Gespiele und das ist mir nicht genug. Tut mir leid.“

„Nein, du bist mehr für mich als nur ein Abenteuer.“ Er wollte es ihm ganz ruhig klarmachen, aber insgeheim dachte er sich: >Alter, rede ich hier mit Seto oder was? Ich behaupte nie wieder, nur Yugi sucht sich gestörte Typen.< Aber er verstand, was Finn meinte. Ja, er wusste es nicht nur, sondern er konnte es wirklich auch verstehen. „Du glaubst, wenn wir uns zu sehr aneinander gewöhnen, dass du mich noch mehr lieben könntest. Und du glaubst, dass ich irgendwann mit Seth fortgehen werde und dich dabei zurücklasse. Richtig?“

Finn nickte und schluckte leise.

„Ich gebe dir mein Wort, dass das nicht passieren wird. Selbst wenn mein Wunsch in Erfüllung geht und ich mit Seth nochmals zusammenfinde, so werde ich dich darüber nicht vergessen. Dafür bedeutest du mir zu viel.“

„Aber nicht genug“ hauchte er verzweifelt und wollte den Kopf wegziehen. Nur Yami ließ ihn nicht. „Ich kann niemals das für dich sein, was er ist.“

„Nein, du wirst niemals das für mich sein, was Seth ist. Aber du wirst immer das für mich sein, was Finn ist.“ Jetzt erst ließ er ihm ein wenig Abstand, aber nur um seine Augen in einem festen Blick festzuhalten. „Finn, ich liebe dich. Nicht auf dieselbe Weise wie ich Seth liebe, aber ich liebe dich so wie ich dich liebe. Ich will mehr von dir als nur Sex und ein paar lustige Stunden vor dem Fernseher oder auf dem Motorrad. Ich will, dass wir zusammenbleiben. Mit dir will ich alt werden.“

„Und genau das wird nicht möglich sein.“ Er versuchte wegzublicken, doch wen Yami erst mit seinen Augen festhielt, der konnte sich dem nicht entziehen. „Du wirst wieder mit ihm zusammensein und mir das Herz brechen. Ich weiß es.“

„Ja, vielleicht werde ich irgendwann wieder mit Seth zusammensein. Ich wünsche es mir sogar“ erwiderte er ernst. „Aber solange ich auf dieser Welt lebe und solange meine Seele nach dem Ableben im Reich meiner Götter weilt, solange will ich auch mit dir zusammensein. Seth ist keine Konkurrenz für dich, denn du bist Finn. Mein Finn. Ich liebe dich und ich will mit dir zusammensein.“

„Das ist hirnrissig, Pharao. Du wirst nach Domino City zurückgehen und ich werde hier bleiben und … und …“

„Und?“

„Und wahrscheinlich nie wieder glücklich werden“ quetschte er sich dann endlich seine Antwort heraus und griff schon wieder mit den Händen in sein Haar. Das schien eine Stressreaktion von ihm zu sein. Das Haarraufen. „Ich will nicht die Nummer Zwei sein. Ich will … ich will das nicht.“

„In meiner Zeit war es vollkommen normal, mehrere Partner zu haben. Es ist schade, dass ihr das über die Jahrtausende verloren habt.“ Er senkte seine Stimme und fuhr zärtlich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. „Du hast bereits deinen Platz in meinem Herzen. Du musst ihn nur einnehmen.“

„Ich kann aber … ich kann es nicht ertragen, wenn du …“

„Hey, Finnvid.“ Er sah ihm tief in die Augen und strich mit dem Daumen über seine bebenden Lippen. „Hab doch keine Angst vor mir. Ich liebe dich. So sehr, dass ich nicht an ein Leben ohne dich denken möchte. Ich will nicht von dir getrennt sein. Und wenn ich wieder mit Seth zusammenkomme, dann wird er das akzeptieren müssen. Dann wird er akzeptieren müssen, dass du an meiner Seite bist. Weil ich es so will. Ich bin der Pharao und ich wähle mir meine Geliebten selbst. Und wen ich erst erwählt habe, den werfe ich nicht einfach auf den Müll. Ich werde dich niemals zurücklassen. Ich werde mit dir zusammensein und dich lieben. Du bist jemand besonderes in meinem Leben. Du bist Finn und ich bin Atemu, daran wird sich nichts ändern. Ich kann dich nicht zwingen, mich so zu akzeptieren wie ich bin. Mich und meine Art zu lieben. Aber wenn du an meiner Seite leben kannst, dann kannst du auch deinen Platz in meinem Herzen einnehmen. Denn ich liebe dich aus tiefster Seele. Du bist für mich einzigartig und auf deine Art wundervoll. Ich fühle mich wohl bei dir und unendlich frei. Ich will dich nicht verlieren. Ich will, dass wir von heute an gemeinsam leben und uns lieben. Du musst nur einfach bei mir bleiben und keine Angst vor unserer Liebe haben. Wie genau unsere Zukunft aussehen wird, das weiß ich nicht. Aber ich bin bereit, mich mit dir auf etwas Neues einzulassen. Denn ich liebe dich, Finnvid. Ich liebe dich sehr.“

„Du … liebst mich?“ Das musste er erst mal schlucken. Er war von etwas anderem ausgegangen. „Ich dachte, du … du willst nur …“

„Dass ich nur eine Freundschaft mit Sex will?“ Yami wusste genau, was in seinem roten Kopf vor sich ging. „Ich gebe zu, das wollte ich auch. Aber ich habe mich schon vorher gefragt, weshalb ich mich so zu dir hingezogen fühle. Okay, du bist sehr attraktiv und für Feuermagier hege ich eh einen Faible, aber da war noch mehr. Selten hat mich ein Mann so angezogen wie du. Ich fühle mich wohl bei dir, zu wohl um es noch Freundschaft zu nennen. Es dauerte eine Weile bis ich es mir eingestehen konnte, aber nun kommt es ganz leicht über meine Lippen. Ich liebe dich, Finn. Ich liebe dich und ich will mit dir zusammensein. Mit dir zusammen leben und alt werden.“ Er lehnte sich etwas zurück und lächelte ihn liebevoll an. „Okay, für Kinder und Hausbauen bin ich vielleicht nicht der Typ, aber man soll niemals nie sagen. Ich höre mir deine Wünsche gern an und wenn du irgendwann selbst Kinder haben willst, finden wir sicher eine nette Frau für dich. Aber wehe, du verlässt mich für sie. Das würde mich sehr kränken.“

„Ich … ich würde dich niemals …“ Er fuhr schon wieder mit seiner Hand zum Haar, aber Yami hielt sie fest und blickte ihn an. „Ich kann das nicht. Ich kann nicht mit dir zusammensein. Wenn wir uns irgendwann trennen, wird der Schmerz unerträglich sein.“

„Und deshalb willst du dich jetzt von mir trennen, bevor wir uns trennen? Es tut dir doch jetzt schon weh. Warum willst du dich selbst unglücklich machen, nur weil du Angst davor hast, unglücklich zu werden? Das erkläre mir mal.“

„Das kann ich nicht erklären“ behauptete er und kniff die Augen zusammen, um nicht zu weinen und wandte sich ab.

„Du glaubst, wenn du dich jetzt von mir fernhältst, tut es weniger weh als wenn wir erst eine Weile zusammenwaren und wir uns dann trennen? Je näher du mir bist, desto mehr wird es dich schmerzen. Ist es das?“

Finn nickte stumm und presste die Finger an seine Knie.

„Das ist nun mal die Natur der Liebe“ erklärte er ihm sanft. „Je mehr man sich aufeinander einlässt, desto mehr kann man verletzt werden. Aber desto näher kann man sich einander auch fühlen und damit glücklicher werden. Wenn du so fest davon überzeugt bist, dass ich dich unglücklich mache, warum willst du dann vorher nicht das Recht in Anspruch nehmen, glücklich gewesen zu sein?“

„Ich bin bisher nur verlassen worden. Und je länger die Beziehung dauerte, desto …“

„Desto verletzter warst du hinterher. Ich kann es mir denken“ unterbrach er, rutschte ein Stück von ihm weg und legte die Füße aufs Bett. Er würde diese Diskussion so lange führen bis er bekam, was er wollte. „Finn, ich bin nicht eine von den Frauen, die dich bei den ersten Problemen sitzen lassen. Ich bin Atemu und ich stehe zu den Leuten, die ich liebe. Du hast mir viel verschwiegen und versucht, mich zu täuschen. Aber gleichzeitig stehst du zu dem Mist, den zu machst und versuchst immer, andere zu schützen. Du hast es vielleicht nicht bezweckt, aber ich habe mich in dich verliebt. Unter anderem eben auch, WEIL du Ecken und Kanten hast. Wenn du dich von mir fernhalten willst, muss ich das akzeptieren. Aber eigentlich will ich das nicht. Nur weil ich der Pharao bin, heißt das nicht, dass du dein ganzes Leben nach mir ausrichten musst. Du bist schließlich nicht mein Priester, sondern mein Liebhaber. Ich weiß, dass du hier Verpflichtungen hast und Menschen, die dir wichtig sind. Ich gebe zu, dass ich sehr dominant sein kann und versuche, meinen Dickkopf durchzukriegen. Aber ich sorge mich auch um dein Glück und ich gehe trotz meiner dominanten Art viele Kompromisse ein. Du brauchst keine Angst davor zu haben, dass ich dein Leben zerstören will.“

„Das habe ich auch gar nicht gemeint. Ich meine …“

„Und ich meine, dass du mich mal ausreden und mich meinen Vortrag beenden lässt“ unterbrach er ihn ruhig. „Finn, ich liebe dich. Und du liebst mich. Und wenn du akzeptieren kannst, dass ich noch einen anderen neben dir liebe, dann können wir sehr glücklich werden. Ich bin bereit, mich mit dir auf etwas Neues einzulassen. Dich zu meinem einzigen Geliebten aus dieser Zeit zu machen, die nicht die meinige ist. Ich würde mich sogar darauf einlassen, neben Seths nur noch dein Bett zu teilen. Und das ist wirklich ein sehr großes Zugeständnis. Alles, was du tun musst, ist, mir und meiner Liebe zu dir zu vertrauen. Kannst du das?“ Er sah ihn durchdringend an und hoffte so sehr darauf, dass seine Worte ihn endlich erreichen und erweichen würden. „Kannst du auf meine Liebe vertrauen? Darauf, dass du mir unendlich wichtig bist?“ Er sah ihm tief in seine braunen Augen und spürte die große Sehnsucht, welche in ihm verborgen lag. Er liebte Finn aus ganzem Herzen. Er liebte auch Seth, aber in diesem Augenblick wollte er nur Finns Herz gewinnen. Er hatte sich in ihn verliebt und er wollte eine Zukunft mit ihm. Eine Zukunft mit einem modernen Mann aus dieser Zeit. Eine Zukunft mit jemandem, der seine Interessen teilte und der ihm ein so unbeschreibliches Gefühl der inneren Zufriedenheit schenkte. Er wollte mit Finn zusammensein und es für immer bleiben. Deshalb holte er die Worte tief aus seiner Seele und sprach sie mit aller Überzeugung. „Ich liebe dich, Finnvid. Bitte bleibe bei mir. Als mein Wächter, als mein Freund und als mein Geliebter. So wie du bist, liebe ich dich und so wie du bist, will ich mit dir zusammensein. Wenn du mich auch lieben kannst. Finn, sieh mich an.“ Er lehnte sich zurück, stützte sich auf die Hände und wünschte, er könnte in seine Seele blicken, sehen was er dachte und was er tun musste, um ihn aus seiner selbst gewählten Einsamkeit zu befreien. „Sieh mir in die Augen und behaupte, dass du nicht mit mir zusammensein willst. Wenn du mir das sagen kannst, dann gehe ich und laufe dir nicht mehr über den Weg. Aber sag es so, dass ich es dir glauben kann.“

Draußen prasselten die Regentropfen ans Fenster und ein leiser Donner kündigte das nächste Gewitter an. Das war alles, was von der Welt hereindrang. Alles andere verschwamm und versank in Bedeutungslosigkeit. Finn sah dem Pharao in seine übernatürlichen Augen und öffnete den Mund, ohne ein Wort herauszubringen. Sein Kopf sagte ihm, dass eine Verbindung dieser Art eine denkbar schlechte Veränderung war. Rational gesehen sprach alles dagegen als Zweitgeliebter eines Pharaos zu fortzuleben und all seine Zukunftspläne, sowie seine bisherige Lebensart infrage zu stellen. Sich dem Spott der Bevölkerung und den Gefahren einer solchen Liebe auszusetzen. Aber sein Herz sang und johlte und tanzte und interessierte sich nicht einen Deut für das, wovor der Kopf warnte. Der Pharao liebte ihn und war hier, um ihn für sich zu gewinnen. Gab es denn etwas Schöneres als das? War das nicht ein ungeträumter Traum, der da in Erfüllung ging?

Letztlich fand er kein Wort der Antwort, seine Stimme ging in Tränen unter als er sich dem Pharao entgegenwarf und an seiner Schulter die Verzweiflung und die Angst entließ, die ihm das Herz einzwängten. Er spürte die Arme, welche sich um ihn legten und festhielten. Es war ihm peinlich als erwachsener Mann zu weinen wie ein Schulmädchen, doch er konnte nichts anderes tun. Es war nicht zu vergleichen mit den Gefühlen, welche er zuvor zu seinen Freundinnen empfunden hatte. Das hier war … etwas völlig anderes und er wusste noch nicht wie er damit umgehen sollte, was von ihm erwartet wurde und ob das alles überhaupt eine gute Idee war. Aber dennoch … dennoch … die Nähe des Pharaos war übergroß.

„Du, Finn?“ flüsterte Yami zärtlich in sein Ohr, während er seinen Rücken mit beiden Händen streichelte. „Ich interpretiere das als ein Ja. Oder?“

„Tut mir leid“ schluchzte er und drückte sich enger in seine Arme. „Ich heule sonst auch nie …“

„Tränen sind die Sprache des Herzens“ beruhigte er und küsste ihn ins Haar. „Ich bin froh, dass du endlich mit mir sprichst.“

„Atemu …“ Er wusste jetzt auch nicht, was er noch sagen sollte.

„Also, sind wir jetzt ein Paar. Du und ich?“

Finn nickte nur. Er versuchte, die Tränen einzudämmen und sich möglichst schnell zu fangen. Der Pharao sollte ihn nicht für eine Heulsuse halten.

„Schön, das finde ich sehr gut.“ Dafür hatte der sich erstaunlich gut im Griff. Auch wenn Finn an seiner Brust das Herz laut schlagen hörte. Er hatte seine Gefühle nur einfach besser unter Kontrolle. „Dann muss ich dir jetzt nur noch eine Bedingung sagen.“

„Bedingung?“ Er wischte sich die Augen sauber und blickte kurz zu ihm hoch.

„Ja, es ist mir etwas unangenehm, aber ich muss darauf bestehen.“ Er drückte Finn ein wenig weg und sah ihn bitterernst an. „Früher war es schon so, dass meine Geliebten alle Kastraten waren.“

„Was?!“ Was sollte das denn heißen?

„Na ja. Ich gestatte es zwar, dass meine Geliebten Frauen haben, aber sie dürfen keine Kinder mit ihnen zeugen. Wenn du Kinder haben willst, dann zeuge ich sie mit deiner Frau. Deshalb muss ich darauf bestehen, dass du dich kastrieren lässt.“

„Du willst, dass ich …“ Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich soll mir was abschneiden lassen?“

„So ist es Tradition“ zuckte er mit den Schultern. „Kommt dir vielleicht etwas komisch vor, aber mir sind meine Traditionen wichtig. Also, wenn du mich liebst … du hast ja nun zugestimmt.“

„Gar nichts habe ich!“ Er saß da wie angewurzelt und … er kannte sich ja mit den Traditionen und Gebräuchen von vor 5000 Jahren nicht aus. „Das ist nicht dein Ernst!“

„Das ist mein voller Ernst. Früher war es eine Ehre, wenn ich einen Mann darum bat, seine Männlichkeit für mich herzugeben. Es klingt komisch, aber vielleicht solltest du diese Bedingung als eine besondere Auszeichnung sehen. Und in den modernen Krankenhäusern heutzutage, ist so eine Operation auch kein großer Eingriff mehr.“

Aber über das königliche Gesicht breitete sich ein Grinsen aus und seine Augen zeigten ein neckisches Funkeln. Das würde noch sehr lustig werden mit Finn.

„Atemu, du bist so gemein!“ Jetzt merkte auch er es, drehte sich um und wischte die juckenden Augen. „Mich so zu verarschen.“

„Mach dich locker, Finni“ lachte er und sprang ihm an den Rücken, kuschelte sich wieder an ihn.

„Normalerweise heule ich nicht so schnell.“

„Ich weiß. Aber so ein Liebeschaos haut jeden um. Ich habe zuhause auch geheult. Kannst Yugi fragen, der hat literweise hinter mir aufgewischt. Aber jetzt lassen wir es uns gutgehen, okay?“

„Okay“ nickte er und nahm Yamis Hände, welche über seiner Brust lagen. „Tut mir leid, ich bin noch ein bisschen zittrig. Ich habe mich gleich wieder.“

„Du bist ja ein Sensibelchen“ lächelte er und küsste seine Wange. „Keine Angst, ich mag sensible Männer.“

„Na dann.“

„Du bist doch nicht beleidigt, weil ich dich auf den Arm genommen habe, oder?“

„Na ja … nett war das nicht.“

„Schön, ich mag beleidigte Männer.“

„Gibt’s auch irgendwas, was du nicht magst?“ seufzte er verzweifelt.

„Natürlich. Sex erst nach der Ehe zum Beispiel.“

Finn seufzte noch tiefer und ließ den Kopf hängen. Das konnte ja was werden …
 


 

Chapter 4
 

„Ist das zu glauben?“ Joey ließ sich neben Narla plumpsen, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf drauf.

„Was?“ guckte sie ihn verwundert an.

„Ja, bitte sprich in ganzen Sätzen“ meinte auch Balthasar, welcher an seinen Tortellini kaute.

„Leute, ich komme eben von Yugi, ja?“

„Oh ja, was für ein Kunststück“ kommentierte Noah von der Seite und spießte seinen grünen Salat auf. Abendessen war ne feine Sache. Zumal das Restaurant seit gestern für Gäste gesperrt war. Offiziell wegen Umbaumaßnahmen, inoffiziell wegen versuchter Kindesentführung. So hatte die Truppe das ganze große Haus komplett für sich allein. Bis auf Hannes, der weiter tat, was ein Wirt halt so tat. Dass er etwas mit der Sache zu tun hatte, konnte sich wahrlich niemand vorstellen.

„Bärchen, wenn du was zu erzählen hast, dann erzähle und mach nicht so ein Heckmeck darum“ bat Narla und schob ihm ihre angefangene Tomatensuppe rüber, damit er sie aufaß. „Und nimm die Arme vom Tisch. Das ist kein Bett.“

„Ich bin nur total baff“ meinte er, nahm die Suppe entgegen. „Magst du nicht mehr?“

„Ist schon meine dritte. Iss auf.“

„Also, Yugi ja?“ Er tauchte den Löffel hinein, schaute aber Narla aufgeregt an. „Yugi hat mir eben erzählt, dass Yami jetzt mit Finnvid zusammen ist. Ihr wisst schon, dieser große Typ mit den roten Haaren. Wo wie alle dachten, der wäre Rentner.“

„Wir wissen wer Finn ist“ versicherte Balthasar. „Und alles andere wissen wir auch. Verbrabbelt sich ja nicht jeder so lang mit der Sekretärin wie du.“

„Wie? Ihr wisst das schon, dass Yami fremdgeht?“

„Fremdgehen würde ich das nicht nennen“ meinte Narla. „Er hat nur einen zweiten Geliebten. In Ägypten war das ganz normal, dass man mehrere Partner hat, wenn man sich in mehrere Leute verliebt. Damals nannte man das, jemanden zu seinem Favoriten zu machen.“

„Du sollst mich nicht immer verarschen!“

„Ausnahmsweise, mein blonder Schatz, verarsche ich dich mal nicht“ knutschte sie ihm mitten auf die Nase. Er war manchmal echt zu süß, wenn er sein Hirn nach Feierabend einfach ausstellte. Aber die Frage, ob er sich das bei Seto abgeguckt hatte, wollte sie in dieser Runde lieber nicht stellen - damit ärgerte sie ihn allein.

„Wer’s glaubt. Trotzdem glaube ich nicht, dass Seth das so gern sehen wird“ redete Joey weiter und rührte seine Suppe um. „Selbst wenn das in Ägypten normal war, wird er bestimmt total eifersüchtig werden.“

„Das solltest du Ati überlassen“ meinte Balthasar. „Der weiß schon, was er tut. Davon mal weg, glaube ich, dass Finn ihm richtig gut tut. In unserer Zeit ist Ati ewig allein geblieben und hat Seth zwar was vorgebetet, aber nie wirklich die Kraft gehabt, ihm den Marsch zu blasen. Und jetzt guck ihn dir mal an. Er ist ein ganz neuer Mensch.“

„Ja, er sieht richtig gut aus“ pflichtete Narla ihrem Bruder bei. „Sicher wird Papa nicht begeistert sein, aber für Yami ist es das Beste. Er ist kein Typ, der allein leben kann. Und Finn ist voll sein Geschmack. Ich liebe meinen Papa, aber wenn er sich so sehr von sich selbst entfernt, darf er sich nicht beschweren, dass sein Pharao sich einen zweiten Geliebten nimmt. Er hat ja auch aus Liebe geheiratet und Yami hat das akzeptiert. Letztlich ist Finn nichts anderes als Marie.“

„Das würde ich nicht ganz so sehen“ warf Noah ein. „Marie war von Anfang an klar, dass sie ‚nur‘ die Frau des Priesters ist und soweit ich weiß, war Seth bereits mehrfach verheiratet bevor er mit Yami zusammenkam. Finn und Seth sind momentan aber auf derselben Ebene der zwischenmenschlichen Beziehung. Yami hat immer versucht, Liebesleben und Priesterschaft zu trennen und somit hat Seth seine Alleinstellung als Liebhaber verloren. Und das kurz nachdem Yami ihn unehrenhaft aus der Priesterschaft entfernt hat. Insofern muss ich Joey zustimmen, dass das zu Problemen führen kann.“

„Danke, Chef.“ Passierte ja selten, dass Joey auch mal Recht bekam.

„Ich finde das ganz legitim“ sagte Balthasar mit einer wegwerfenden Geste. „Wenn mein Herr Vater so gegen die Prinzipien handelt, muss er damit rechnen, verdrängt zu werden. Ich habe gleich gesehen, dass Finn ein klasse Kerl ist. Und habt ihr das Leuchten in Atis Augen gesehen? Das war doch klar, dass der sich sofort verguckt hat.“

„Außerdem ist Yami viel freidenkender. Er braucht das“ pflichtete Noah bei. „Er hätte sich wahrscheinlich auch für Finn erwärmt, wenn Seth daneben gestanden hätte.“

„Yugi sagte, wir sollen Yami unterstützen“ erzählte Joey besorgt.

„Wo Yugi Recht hat“ ergänzte Narla.

„Aber ich kann mir das noch nicht so richtig vorstellen. Ich meine, kommt Finn dann mit uns nach Domino oder wie soll das aussehen?“

„Wichtig ist, dass wir Finnvid als seinen Partner akzeptieren“ riet Noah. „Wenn sie sich lieben, sollten wir da nicht intervenieren. Ich bin sicher, Yami hat sich das nicht leicht gemacht. Aber er ist auch kein Mensch, der gegen sein Herz handelt und wenn er sich verliebt hat und sich dabei gut fühlt, dürfen wir das nicht kaputt machen.“

„Ich find’s aber auch ungewohnt, so sehr ich es verstehen kann“ pflichtete Narla ihrem Joey bei. „Ich glaube auch nicht, dass Papa das gern sehen wird. Ich stehe ja voll auf Yamis Seite, aber ich kenne auch meinen Vater.“ Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger die Rillen des Holztisches nach und überlegte. „Doch wie Noah sagt, wir müssen Yami unterstützen. Für uns ist so eine Liebschaft ungewohnt, aber der alte Pharao würde das hinkriegen, auch zwei Partnerschaften zu managen. Er ist immerhin zum Herrschen geboren und wird schon wissen, was er … buuhaa ...“ Plötzlich schüttelte sie sich und die Gänsehaut lief bis auf ihre Arme hinab.

„Schatz?“ fragte Joey vorsichtig nach. „Alles okay?“

„Ja, geht schon wieder.“ Sie rieb sich die Arme und atmete tief. „Das muss ich unter Kontrolle bekommen.“

„Narla nimmt Geisterunterricht“ erklärte Joey dem verwirrt dreinschauenden Noah.

„Geisterunterricht“ wiederholte der skeptisch. Trotz der täglichen Beweise stand Noah dem Okkultismus noch immer skeptisch gegenüber. Und an Geister glaubte er -eigentlich- nicht.

„Ich habe doch schamanische Fähigkeiten“ erklärte sie und nahm die Hand ihres Schatzes, da der sich anscheinend um sie sorgte. „Yela hat mich einem alten Schamanen vorgestellt und den habe ich heute besucht. Er hat mir gezeigt, wie man Geister und solche Dinge spüren kann, aber seitdem erschauere ich immer, wenn etwas an mir vorbeistreift. Ich muss das erst mal kontrollieren lernen, bevor ich wirklich etwas sehen kann.“

„Was sehen?“ hakte Noah unwissend nach. „Poltergeister und so etwas? Gibt es das denn?“

„Natürlich gibt es Poltergeister“ lächelte sie. „Er hat mir ein Buch mitgegeben, das ich mal durcharbeiten werde. Ich habe meine Fähigkeiten nie richtig trainiert und da ich ja nur eine Hexe bin, sind sie derzeit nicht besonders stark. Vor einigen Jahren waren sie stärker, weil ich mit meinen Drachen verbunden war, aber ohne sie nimmt meine magische Kraft allmählich ab. Er sagte mir aber, dass meine Schamanenkraft wahrscheinlich stärker ist als meine Feuerkraft. Wir haben lange geredet und deshalb habe ich beschlossen, dass ich diese Fähigkeiten weiter ausbilden will. Vielleicht kann ich damit nützlicher sein als mit Feuerzaubern.“

„Genau, kleine Hexe, überlass das Feuer den Magiern“ grinste Balthasar sie provokativ an.

„Halt die Klappe, HALB-Bruder.“

„Und was kannst du dann machen?“ wollte Noah weiter wissen. „Schamanen sehen doch nur die Seelen verstorbener Menschen. Oder? Sorry, ich kann mir darunter nicht viel mehr als Gläserrücken vorstellen. Oder Schamanen aus dem Urwald oder bei den Indianern.“

„Die meisten haben wirklich eher etwas mit Toten zu tun, aber in mir steckt mehr. Ich kann, wenn ich die Ausdauer bewahre, eine der mächtigsten Schamaninnen werden. Alfons hat das angeblich sofort in mir gesehen.“

„Alfons ist der Typ, wo sie war“ erklärte Joey zusätzlich.

„Ich kann nicht nur die Seelen Verstorbener sehen, sondern vielleicht sogar herbeirufen. Quasi Tote aus dem Totenreich zurückholen.“

„Das klingt irgendwie merkwürdig“ murmelte der skeptische Noah. „Du meinst, du rufst Tote herbei?“

„Cool, Zombies“ grinste Balthasar.

„Das ist aber wohl der schwerste Zauber“ musste sie eingestehen. „Ich weiß auch noch nicht wirklich, wie das gehen soll. Vorerst konzentrieren wir uns auf das Sehen von vorhandenen Geistern. Alfons sieht lauter Dinge. Er hat mir berichtet, dass er manchmal sogar helle Gestalten mit goldenen Flügeln und lieblichen Gesichtern sieht, die bei ihm verweilen.“

„Das sind Engel“ wusste Balthasar sofort. „Dein Meister kann wirklich Engel sehen?“

„Wenn er sein inneres Auge öffnet, ja. Er vertraute mir sogar an, dass er sich manchmal mit ihnen unterhält. Zwar nur wenige Worte, aber sie sollen ihm sehr zugetan sein. Er sieht aber auch Schatten. Er sagte, Schatten zu sehen ist wesentlich leichter. Sogar Menschen ohne Magie können sie sehen.“

„Das stimmt. Sogar wir sehen die starken Schatten“ nickte Noah. „Und was bringt es dir, wenn du das lernst? Ich meine, hat das alles auch eine praktische Seite?“

„Ja, natürlich“ lächelte sie aufgeregt. „Ich kann vielleicht irgendwann auch mit Seelen sprechen und ihren Beistand erbitten. Sogar tote Tiere könnte ich sehen und sie um Dinge bitten. Als Schamane kann man mit drei Welten in Kontakt treten. Nämlich der bewussten Welt in welcher wir uns jeden Tag befinden. Als zweites mit der unbewussten Welt, in welcher sich Engel und Schatten bewegen und auch Verstorbene, die noch hier weilen. Und als drittes mit dem Totenreich, dort wo alle Seelen weilen, welche noch nicht vergessen wurden.“

„Und wenn du sie rufst, hast du so eine Art Armee von Toten und du bist die Kommandantin“ grinste Joey, der bei diesem Gedanken in seine eigene, kleine Comicwelt abtauchte. Man wollte gar nicht wissen, was er sich da wohl ausmalte … wahrscheinlich war Narla in seiner Vorstellung dabei auch leichter als leicht bekleidet wie in einem seiner Mystery-Erotica-Büchlein …

„Außerdem gibt es bestimmte Zauber, die nur von einem Schamanen gesprochen werden können oder Tränke, die nur wir brauen können. Alfons sagte mir aber gleich, dass man als Schamane sehr demütig gegenüber dem Leben und dem Tode sein muss. Man selbst ist nur ein Instrument zwischen den Welten und muss um alles unterwürfig bitten. Ich glaube, das wird mir am schwersten fallen. Ich ordne mich nicht so gern unter.“

„Stimmt.“ Mit diesem einen Wort schaute sie Joey auch schon wieder sehr intensiv an. Er wusste sicher am besten wie wenig sie sich unterordnen konnte. „Aber ich mag starke Frauen.“

„Du bist so süß“ lächelte sie und schmiegte ihren Kopf an seinen. „Ich liebe dich, Bärchen.“

„Ich liebe dich auch, Süße. Besonders wenn du zwischendurch so mädchenhaft bist.“

„Was? Ich dachte, du magst starke Frauen und keine kleinen Mädchen.“

„Ähm … na ja …“ Na super, wieder was gesagt ohne darüber nachzudenken, was er eigentlich sagen wollte. „Ich liebe ja auch nur dich.“

„Nicht besonders gut, aber immerhin gerettet“ seufzte sie und blieb gemütlich an ihn gelehnt, legte sogar die Arme um ihn. „Wenn du noch was Nettes sagst, gibt’s Sex heute Abend.“

„OH!“ Oh … oh … oh! Jetzt schnell was Nettes sagen! „Du hast den … oh … oh, ich weiß! Du hast pralle Boobies!“

„Na ja.“ Okay, unter Stress war er unkreativ. „Das lass ich mal noch so durchgehen.“

„Tja, so macht man das, Männer“ grinste er die beiden anderen stolz an und legte demonstrierend den Arm um seine Eroberte. „Schande, Schatz, du frierst ja schon wieder.“ Er strich über ihre Arme, war es gar nicht gewohnt, dass sie fröstelte - wo sie doch wörtlich ne heiße Braut war. „Erkälte dich mal nicht bei diesem Schamanenquatsch.“

„Aber weißt du, was cool ist?“ freute sich Balthasar. „Wenn du so stark wirst, dass du Tote rufen kannst, dann macht es gar nichts mehr, dass du auf alte Knacker stehst. Dann kannst du auch nach ihrem Tod mit ihnen zusammensein.“

„Ich glaube nicht, dass das so einfach ist“ lachte sie. „Außerdem stehe ich nicht auf Knacker.“

„Na ja, Joseph ist nun auch bald 30.“

„Alter, ich bin gerade 29 geworden!“

„Und deine Freundin? Die ist gerade mal süße 18, nech?“

„VOLLE 18!“

„Also doch Knacker.“

„Lass deine Sprüche mal bei Tato“ lachte Narla, während Joey sich grün ärgerte. Natürlich wirkte er neben einer jungen Freundin älter, aber es reichte schon, dass Narlas Freunde Sprüche klopften. Da durfte man doch wohl wenigstens in der eigenen Familie verschont bleiben.

„Außerdem ist 30 keine so schlimme Zahl“ warf Noah zweideutig ein. „Ich wünsche mir übrigens ein neues Teeservice für’s Büro.“

„Ach ja! Du hast ja bald Geburtstag!“

„Blitzmerker, Joseph“ schüttelte Narla den Kopf.

„Cool, dann musst du fegen gehen“ grinste Joey voller Freude.

„Würde ich ja glatt machen“ grinste Noah vor sich hin.

„Und warum grinst du so?“

„Weil d u das meinem Freund verklickerst“ zeigte er mit dem Zeigefinger auf Joey. Wenn der Mokuba erzählte, dass Noah von irgendwem geküsst werden sollte, war es fraglich, ob Joey selbst irgendwann mal 30 wurde. Wahrscheinlich eher nicht.

„Okay, lassen wir das mit der Tradition“ seufzte der enttäuscht bis ihm etwas Geniales einfiel. „Narla, wenn ich nächstes Jahr auch 30 werde, müssen wir noch dieses Jahr heiraten.“

„Wieso?“ guckte sie ihn hilflos an. „Freust du dich nicht, wenn dich ein junges Ding knutscht? Ich jedenfalls werde das nicht sein, denn DU hast mich befleckt, mein Lieber.“

„Doch ich will schon geknutscht werden. Aber ich habe keine Lust auf körperliche Arbeit. Also musst du mich heiraten.“

„Ich heirate dich doch nicht nur weil du so faul bist. Du bist unmöglich“ schüttelte sie aufgebend den Kopf und erschauerte im selben Moment nochmals. „Meine Güte, hier sind viele … oh …“

„Viele oh was?“ sorgte Joey sich sofort wieder. „Was ist?“

„Ich höre ein Weinen“ erwiderte sie und blickte sich im Raum um. Doch hier unten war kaum noch jemand. Nur sie selbst und Hannes, der im Nebenraum seine Ablage sortierte.

„Weint das Krümelchen?“ horchte nun auch Joey genau hin. „Aber sie ist doch bei Tea, da musst du keine Sorgen haben. Wir können schön Liebe machen.“

„Nein, das ist kein Babyweinen. Das hört sich anders an.“ Sie stand auf und spitzte die Ohren, untersuchte mit ihren stahlgrauen Augen den Raum. „Hört ihr das nicht?“

„Nein, ich höre nichts“ gestand Noah. „Vielleicht einer von deinen Poltergeistern.“

„Hm, vielleicht. Es kommt von dort.“ Sie zeigte auf die Treppe, doch da war nichts zu sehen. Deshalb ging sie darauf zu, auf das was die anderen nicht hören konnten.

Kaum kam sie in die Nähe der Treppe, zischte und fauchte es und eine Gruppe von Schatten sauste an ihr vorbei, um die Stühle und Tischbeine herum und entfleuchten durch die Wände nach draußen.

„Das habe ich jetzt auch gesehen.“ Balthasar sprang auf und lief bis neben seine Schwester, zückte bereits den Millenniumsstab zum Kampf.

„Nein, bleib ruhig“ bat sie und nahm seinen erhobenen Arm. „Die wollten nichts von uns. Dafür sind sie zu schnell weg.“

„Narla“ flüsterte er und hob den Finger. Nun hörten es auch die anderen. Das leise Weinen. Ein helles Stimmchen, ganz rein und lieblich. Irgendwo unter der Treppe weinte es still und versteckt.

„Das kenne ich! Mann, Alter!“ Joey sprang auf, lief an den beiden vorbei, fiel auf die Knie und krabbelte unter die Treppe. Jedenfalls wollte er es, wenn sich nicht aus der Dunkelheit eine Gestalt auf ihn zubewegt und vor ihm aufgebaut hätte. Er blieb unten knien und rutschte langsam zurück. Blickte in tiefschwarze Augen, eingebettet in blassweiße Haut. Die Hände von schwarzer, zähflüssigem Schleim bedeckt, eine hohe, dünne Gestalt und sie grinste mit scharfen Zähnen zu ihm hinab. Setos Angstgestalt, wahrscheinlich hatte sie die Schatten verscheucht. „Ey Mann, alles cool, ja?“ stammelte Joey und rutschte vorsichtig weiter zurück. Mit dem Vieh war nicht zu spaßen, solang kein Pharao in der Nähe war.

„Seto.“ Trotzdem war Balthasar so mutig und sprach die Gestalt an. „Was machst du hier?“

Doch anstatt einer Antwort hörte er nur ein spitzes Atmen, wie ein Zischen. Und der Blick allein konnte Leben zerstören. Er war hier und er war nicht zu Scherzen aufgelegt.

„JOOEEYY!“ Aber neben der ölig blassen Angst lief etwas kleines vorbei. Kurz leuchtete das blaue Herz und die unschuldige Seele patschte mit schnellen Schritten auf ihn zu.

„Seto! Mann, komm her!“ Bloß weg von dieser Bestie. Er öffnete seine Arme, damit der Kleine zu ihm laufen konnte. Doch anstatt sich bei ihm verstecken zu können, flutschte er durch ihn hindurch und blieb hinter ihm stehen. Schnell drehte Joey sich zu ihm um und blickte in die traurigsten Augen, die es auf dieser Welt gab. Seto war verzweifelt. Ganz nackt stand das kleine Kind da, hielt sein kaputtes Herz fest in beiden Händen an sich gedrückt und atmete stockend. Die Schultern hochgezogen und die blauen Augen weit aufgerissen. Er war ganz außer Atem, ganz offensichtlich brauchte er Hilfe.

„Mann, Seto.“ Joey fing gleich selbst an zu weinen bei diesem Anblick. Dennoch öffnete er hoffnungslos seine Arme. „Wenn ich Seelen berühren könnte, würde ich dich sofort umarmen.“

„Joey!“ Er patschte zu ihm und kam ihm so nahe es ging. Sie konnten sich sehen, aber nicht berühren.

„Mann, was machst du hier?“ Auch wenn Joey ihn nicht anfassen konnte, so hielt er die Hände über seine zitternden Arme. Auch wenn es wenig half gegen die Angst, welche noch immer an der Treppe stand und mit gierigen Augen auf ihn blickte.

„Ich bin gelaufen. Drei Tage“ antwortete der Kleine, sein helles Stimmchen bebte so aufgewühlt, dass man am liebsten über ihn weinen wollte.

„Wo ist denn dein Körper, Süßer? Warum bist du so unterwegs? Wenn die Schatten dich erwischen.“

„Ich bin gelaufen. So lange. Es war dunkel“ bibberte er und blickte nervös zur Treppe, dann auf sein Herz. „So dunkel. Überall sind Schatten. Sie kommen. Sie wollen mich auffressen.“

„Natürlich wollen sie das. Du weißt doch wie gefährlich es ist, wenn du ohne deinen Körper rumläufst. Das sollst du doch nicht.“

„Aber ich wollte nicht … bitte … nicht böse sein.“

„Siehst du?“ zischte die Angst und tat einen Schritt nach dem anderen auf ihn zu, wie ein Raubtier auf der Lauer. „Alles, was du machst, ist falsch. Du machst nur Fehler. Du wirst niemals stark werden. Du solltest lieber gar nichts mehr tun als alle in Gefahr zu bringen. Jetzt hast du wieder alle enttäuscht.“

„DAS STIMMT NICHT!“ Da wurde Joey wirklich böse, wenn Seto sich so etwas einredete. Sicher, die Angst sollte ihn beschützen. Das tat sie auch, wenn Schatten in der Nähe waren oder wenn man vorsichtig sein sollte. Doch leider machte die Angst nicht nur andere fertig, sondern auch den unschuldigen Seelenkern.

„Nicht schreien!“ Davon knickte auch die kleine Seele ein, versteckte ihr Herz an der Brust und den angezogenen Beinen. Kauerte sich auf dem Boden zusammen. Seto war völlig fertig. Kein Wunder, wenn man drei Tage und Nächte lang vor Schatten weglief und versuchte, sein Herz zu beschützen. Und dabei ging er Joey gerade mal bis zum Bauch.

„Nein, ich schreie nicht. Ich bin ganz ruhig“ versprach Joey und sah wie Noah an ihm vorbei und die Treppe hinaufsprang. Sicher würde er Yugi alarmieren, damit er kam und Seto beistand. „Seto, ganz ruhig. Ganz ruhig, okay? Nicht weinen.“

„Ich weine nicht“ flüsterte das Seelchen. „Ich bin stark. Ich weine nicht. Ich muss stark sein.“

„Du bist nicht stark“ zischte die Angst, trat hinter ihn und kniete sich zu ihm herab. Wenn Joey sah wie nahe diese grässliche Gestalt dem armen Seelenkern kam, wollte er sie am liebsten fortprügeln. Aber sie war nun mal ein Teil von ihm und selbst wenn er die Angst verprügeln könnte, so würde er dem kindlichen Seto doch nur wehtun.

„Joseph.“ Balthasar kniete sich zu ihm, sprach ganz leise, um Seto nicht zu erschrecken. „Ich kann deine Seele vom Körper lösen, aber solange Yugi nicht hier ist, könnte die Angst dich angreifen.“

„Ich will nichts falsch machen“ stammelte der Kleine vor sich hin. „Ich muss zu Yugi. Ich muss Yugi finden. Zu Yugi. Yugi muss … ich muss … zu Yugi.“

„Yugi ist oben, Süßer“ beruhigte Joey, ach wenn er ihn doch nur berühren und in den Arm nehmen könnte.

„Ich kann nicht nach oben. Da ist … alle Schatten sind da. Sie wollen nicht, dass ich zu Yugi gehe. Sie lassen mich nicht.“ Deshalb hatte er sich unter der Treppe versteckt. Er kam dort nicht weiter. Die Schatten wussten wo er hinwollte und ließen ihn nicht.

„Seto!“ Da kam Yugi auch schon die Treppe herabgepoltert und schreckte das zitternde Bündel am Boden auf.

„Okay, Yugi. Aufpassen!“ Balthasar sprang ihm entgegen, der Stab in seiner Hand glühte auf und hüllte den Raum für einen Augenblick in goldenes Licht. Nur wenige Sekunden später war es vergangen und Yugis Körper hing leblos in Balthasars Armen. Der hatte ihn noch im Laufen aufgefangen, während dessen Seele Seto in die Arme schloss und endlich beschützte.

Da lag das Seelchen nun endlich in Yugis Umarmung und seine lange Reise fand ein gutes Ende. Die Schatten hatten ihn nicht bekommen, Dank seiner Angst. Und Yugi hatte seine Angst schon lange bezwungen. Seto war endlich am Ziel, Dank Yugi. Weil er ihm wie immer das letzte Stück entgegenkam.

„Hey, nicht weinen.“ Obwohl Yugi selbst die Tränen zurückhalten musste, tröstete er den Kleinen. Wollte ihm das Gefühl geben, dass alles in Ordnung war.

„Ich bin da. Ich habe dich gefunden.“ Er verschwand fast in Yugis Armen, kuschelte sich an ihn, suchte die Nähe und die Wärme.

„Ja, hast du. Du hast mich gefunden“ lobte er und streichelte über das weiche Kinderhaar, setzte ihn sich auf den Schoß und würde ihn so schnell nicht wieder loslassen. Selbst Joey wich zurück und setzte sich zu Narla, die mit Balthasar auf der Treppe blieb. Noah war von oben nicht zurückgekehrt und übernahm wohl das Zubettbringen der Kinder, wo er Yugi soeben abgelöst hatte.

„Yugi, ich war tapfer“ erzählte er mit unsicherer Stimme und krallte sich in seinen Ärmel, während er mit der anderen Hand das blaue Strahlen verdeckte. „Die Schatten waren da und haben mich gejagt. Sethos ist nicht zurückgekommen. Er hat gesagt, ich darf nicht ohne ihn rausgehen, aber ich wusste nicht … ich musste zu dir.“

Tja, Sethos war nicht zurückgekehrt. Und würde es so schnell wohl auch nicht tun. Hoffentlich schaffte Seto es trotzdem. Man durfte ihm nur keine Angst machen. Die stand eh schon hinter ihm und wartete nur auf den richtigen Moment, um sich vorzudrängen.

„Jetzt bist du ja hier.“ Yugi lächelte ihn an, blickte in die kindlich blauen Augen und sah sein Lächeln nach einigen Sekunden erwidert. Seto war so süß. „Und geht es dir gut, mein Engel?“

„Ein bisschen ja, ein bisschen nein“ antwortete er und rutschte so hin, dass er Yugi leichter ansehen konnte. „Geht’s Nini und Tato gut? Und Moki?“

„Ja, es geht uns allen gut. Mach dir keine Sorgen.“ Und dass er ihm Sethos‘ schlechten Zustand verschwieg, würde Seto später hoffentlich verzeihen. „Ich mache mir aber ein bisschen Sorgen um dich. Wo ist denn dein Körper?“

„Nicht hier.“ Ja, die Antwort eines Kindes. „Nur ich und die Angst sind hier. Die Angst beschützt mich vor den Schatten. Aber …“

„Aber was?“ Aber war nicht gut.

„Yugi?“ wisperte das Seelchen und nahm Yugis Hand, drückte sie ganz vorsichtig an sein Gesicht. „Hast du mich noch lieb?“

„Natürlich habe ich dich noch lieb. Niemanden liebe ich so sehr wie dich. Das weißt du doch.“

„So eine dumme Frage“ zischte die Angst und beugte sich zähnefletschend über den kleinen Kopf. „Du stellst nur dumme Fragen. Du beschämst alle, wenn du so dumm bist. Du wirst niemals etwas lernen.“

„Zwischendurch darf man ja mal fragen“ lächelte Yugi erst die Angst und dann die kleine Seele an. „Und du? Hast du mich auch noch lieb?“

„Ja.“ Setos Wangen hauchten sich in ein zartes Rosa und beschämt schlug er den Blick nieder. „Ich habe dich unendlich lieb. Soll ich zeigen wie viel?“

„Na klar. Zeig mal.“

Seto legte sein Herz vorsichtig auf den nackten Schoß, drückte sich schützend an Yugi und breitete die Arme aus, streckte sich so weit er konnte. „Soooooo viel. Und noch viel mehr.“

„Wow, das ist wirklich viel Liebe“ lachte er und kuschelte ihn als auch er kichernd sein Herz wieder aufnahm und sich anschmuste. „Ach, mein Engelchen. Ich habe dich so vermisst.“

„Ich vermisse dich auch“ flüsterte er vertraulich zurück. „Yugi, ich will stark werden. Ganz stark, damit ich alle beschützen kann. Sethos sagt, ich kann das.“

„Da hat Sethos Recht. Du kannst alles, was du dir vornimmst“ stimmte auch er dem zu und küsste die Seele auf die Stirn. „Bitte entschuldige, wenn ich das frage, aber musst du nicht zurück in deinen Körper?“

„Er will dich loswerden. Er hasst es, dich zu sehen. Du bist so ärmlich.“

„Nicht doch“ besänftigte Yugi. „Ich möchte nur, dass dir nichts passiert.“

„Ich muss zurück ins Wasser. Sonst kann ich niemals stark werden. Und ich will stark werden, damit ich alle beschützen kann. Damit du stolz auf mich bist.“ Das war eigentlich ein Moment, in welchem die Angst sofort wieder einsetzen müsste. Ihm einreden müsste, dass er niemals stark genug werden könnte. Doch sie war ruhig. Sie sah nur mit ihren schwarzen, triefenden Augen auf den Hinterkopf des Kindes und atmete so leise, dass sie kaum zu hören war. „Du? Yugi?“

„Ja, mein Herzchen? Kann ich dir irgendwie helfen, damit du wieder in deinen Körper kannst?“

„Nein. Ich muss das alleine schaffen.“ Er rutschte zurück, weg aus Yugis schützenden Armen und kniete vor ihm, drückte das kaputte Herz an sich und blickte ihn flehend an. In seinen lieblichen Kinderaugen lag eine unendliche Unschuld und die tiefe Bitte danach, geliebt zu werden.

„Du wirst es schaffen“ ermutigte Yugi und strich ihm sanft über den Kopf. „Du bist doch mein kleiner Liebling. Du kannst alles schaffen.“

„Aber Sethos hat gesagt, ich schaffe es niemals ohne dich“ sprach er mit hoffender, leiser Stimme. „Sethos hat gesagt, ich muss alles von mir aufgeben. Ich kann nur stark werden, wenn du auf mich aufpasst. Ich muss nichts sein und du musst alles sein. Sethos sagte, du musst alles über mich bestimmen. Ich muss dir alles geben, was ich habe. Ich kann nur stark sein, wenn du mich zerstören kannst.“

„Das klingt aber gemein“ beruhigte Yugi und sah ihn liebevoll an. „Ich will dich doch nicht zerstören. Ich will, dass es dir gut geht.“

„Ich habe ja nichts, was ich dir geben kann. Ich wusste nicht, warum Sethos so was sagt und er hat gesagt, ich muss alleine wissen, was das bedeutet. Aber ich habe nachgedacht und ich spüre, dass ich ganz doll stark werden kann. Aber nicht ohne dich. Ich brauche dich … also, du willst mich. Vielleicht.“

„Liebling, ich verstehe nicht, was du da sagst.“ Auch wenn er als Kind eine einfachere Sprache verwendete und immer alles so aussprach wie es in ihm war, manchmal war er selbst dann schwer zu verstehen. „Mein süßer Engel, warum bist du bis hierher gelaufen?“

„Ich weiß jetzt, was Sethos mir gesagt hat. Er sagte, du musst mich zerstören können. Du musst alles haben und ich nichts. Aber ich habe ja schon gar nichts. Nichts, gar nichts habe ich. Aber dann habe ich gedacht … doch … ich habe noch was. Alles, was ich noch habe.“

Als er seine Hände nach vorn streckte, wusste Yugi, wovon Seto sprach. Und er sah ebenso, was Sethos gemeint hatte, als er von einer zerstörerischen Verbindung sprach. Um Setos Übermacht zu kontrollieren, musste er seine ganze Existenz beherrschen. Und Seto bot ihm alles an, was er noch besaß.
 

Sein Herz.
 

Er hielt es ihm hin. In seinen kleinen, unschuldigen Kinderhänden bot er ihm sein Herz an. Sein kaputtes, geschundenes Herz. Es war über die Jahre schief und krumm geworden, fast zerbrochen an all dem Bösen dieser Welt. Doch er hatte es geflickt mit glitzerndem Diamantenstaub, hatte Träume geformt und Hoffnungen, um am Leben zu bleiben. Er kämpfte, damit sein verletzliches Herz nicht brach. Und nun bot er es dem Menschen an, den er über alles liebte. In seinem blauen Herzen lag alles, was er hatte, was er war, was er geben konnte. Seine gesamte Existenz bot er einem anderen dar.

„Oh, Liebling.“ Yugi legte seine Hände unter die kleinen Finger, traute sich nicht, ihm das Herz zu entreißen. „Du willst mir dein Herz schenken?“

„Ja. Mein Herz sei auf ewig Dein“ hauchte er und sah ihn hoffnungsvoll an. Seine blauen Augen glänzten, so sehr hoffte er darauf, dass sein letztes Geschenk angenommen wurde.

„Aber mein … mein Seto …“ Er musste schlucken, es schnürte ihm die Kehle zu. „Du könntest sterben ohne dein Herz. Das Herz ist das Wichtigste, was ein Mensch besitzt.“

„Nein. Du bist was Wichtigste“ antwortete er überzeugt. „Ich kann dir nichts Wertvolles geben. Nur das. Das ist alles, was ich habe.“

„Das ist zu viel. Ich kann doch nicht …“ Doch sein Zögern weckte die Bedenken in Seto. Ließ auch ihn zögern.

„Ich habe es dir gesagt“ zischte die Angst und die öligen Hände fuhren die Arme der kleinen Seele hinauf, hinterließen hässliche Spuren. Die Angst griff die Handgelenke des Kleinen und schwarzer Speichel floss aus ihrem Mund. „Gib es mir. Niemand kann es so gut beschützen wie ich.“

„Nein, das ist nicht gut …“ Das Seelchen zitterte bei diesem Gedanken. Die Angst war mächtig. Sehr mächtig.

„Ich kann es festhalten. Du bist schwach, aber ich bin stark. Ich kann uns alle retten.“

„Lass dir nichts einreden“ bat Yugi mit zärtlicher Stimme und drückte die bebenden Hände des Kleinen ein bisschen hinauf. Auch wenn es nicht so schlimm aussah, das hier war ein Kampf um Leben und Tod. Jetzt erkannte er, weshalb es nur die Angst war, welche Seto begleitete. Sie war das älteste seiner Gefühle, die stärkste Gestalt in ihm und sie war hier, um endlich das Zepter in die Hand zu bekommen. Sie hatte eingesehen, dass sie Yugi nicht besiegen konnte. Aber sie sah ihre Chance, doch noch Herr über Setos Geist zu werden. Wenn die Angst es schaffte, selbst Seelenkern zu werden, war sie Herrscherin über alles in Seto. Sie konnte ihm das Herz nicht entreißen, doch sie war drauf und dran. „Mein Engelchen, du bist ein guter Seelenkern. Du bist stark. Du hast die Angst geschaffen und du musst sie regieren.“

„Das sagt er nur, weil er unser hässliches Herz nicht haben will.“ Schrecklich, die Angst sprach bereits von ‚unserem‘ Herzen. Sie vereinte sich bereits damit. „Gib es mir. Ich bin stark. Ich kann uns beschützen. Uns alle.“ Sie fuhr mit ihren scharfen Zähnen die Schulter des Kleinen entlang und benässte ihn mit ihrem öligen Blut. Sie würde das Kind verschlucken und Seto in den Untergang treiben. Sie wurde übermächtig.

„Das hier ist ein Scheidepunkt für dein Leben“ sprach Yugi und blickte dem noch Seelenkern in die unschuldigen Augen. „Du allein entscheidest, was mit dir geschieht. Du warst es, der all diese Facetten geschaffen hat. Die Angst und den Schmerz. Aber auch den Priester, den Pascal, den Drachen und den Eisprinzen. Deine Kraft ist unerschöpflich. Du allein hast all das geschaffen.“

„Nichts hast du geschaffen“ zischte die Angst und leckte gierig über sein Ohr. „Du hast uns abgestoßen, weil du keinen von uns halten konntest. Alle sagen, du sollst erwachsen werden, aber du schaffst es nicht. Du bist schwach. Im Gegensatz zu mir. Ich bin die mächtigste Kraft von uns. Ich allein kann auf unser Herz Acht geben und unsere Macht lenken. Yugi will dein Herz nicht haben. Du hast es gehört.“

„Das stimmt nicht“ fuhr der Pharao der Angst ernst über den Mund, musste aufpassen, dass er nicht zu laut sprach. Diesen Kampf durfte er nicht verlieren. Er durfte Seto nicht verlieren. „Seto, du bist gut so wie du bist. Du glaubst, du bist schwach, aber das ist nicht wahr. Du bist gut so, genau so wie du bist. Mit allem an dir. Mit allem Starken und mit allem Schwachen. Du hast eine wundervolle, vielfältige Seele. In dir steckt so vieles, so viele Gefühle. Du musst nicht erwachsen sein, denn das bist du doch schon. Der Priester und der Pascal sind doch erwachsen. Ihr seid gut, alle gleichwertig, alle gleich wichtig. Aber du, mein süßer Liebling.“ Er drückte gegen seine zitternden Hände und fühlte das scharfe, schleimige Gefühl der Angst an seinen Fingerspitzen. „Du bist der beste Seelenkern. Denn du hörst auf alle, du kannst alles betrachten. Die Angst hört nur auf sich selber. Der Drache hört auch nur auf sich selber und der Priester auch. Alle hören nur auf sich selbst. Aber du, du hörst auf alle gleich. Du hast sie alle geschaffen, um sie dir anzusehen, um sie zu verstehen. Du hast es gut gemacht. Deshalb liebe ich dich so sehr. Du bist unschuldig und gutgläubig. Deshalb kann ich mit dir sprechen, deshalb kannst du mich verstehen. Durch dich bin ich mit deiner ganzen Seele verbunden. Und ich liebe alles an dir. Ich kann alle verstehen und ich höre dir zu. Ich kann dir helfen und dich festhalten. Gib dein Herz nicht einem einzelnen Gefühl in dir hin.“

„Er redet Unsinn“ wisperte Angst feucht in sein Ohr. „Nur ich kann uns beschützen. Du weißt wie mächtig ich bin. Gib mir mein Herz und ich werde Yugi beweisen, wie mächtig wir sein können.“

„Es ist wie bei einem guten Kartendeck“ versuchte Yugi es möglichst verständlich zu sagen. Er sah die Zweifel in den unschuldigen Kinderaugen. „Alles muss ausbalanciert sein. Alles muss vertreten sein. Nur mit Zaubern oder nur mit Monstern kannst du kein Spiel gewinnen. Und genauso kannst du kein Leben leben, welches nur von Angst regiert wird. Deine Angst ist wichtig, aber nicht wichtiger als dein Intellekt, deine Kunst, deine Instinkte oder etwas anderes. Du bist als einziger Seelenteil rein genug, um gerecht zu entscheiden. Du bist der beste Seelenkern.“

Selbst die Angst war einen Augenblick ruhig und erstarrte mit ihren Lippen am Hals der kleinen Seele. Ihre Hände griffen noch immer gierig nach dem Herzen, doch was damit geschah, entschied allein Setos reine Seelenmitte. Er musste alles abwägen und tief in sich fühlen, was das war, womit er am besten leben konnte.

„Willst du mein Herz haben?“ fragte er dann mit hoffender Stimmer.

Aber Yugi lächelte nur und fragte ihn im Gegenzug: „Willst du mir dein Herz denn anvertrauen?“

„Nein!“ fauchte die Angst so giftig in sein Ohr, dass der Kleine zuckte und nur mit Mühe seine Arme ausgestreckt hielt. „Gib es mir! Ich beschütze uns! Gib es mir! Mir!“

„Ja“ antwortete der Seelenkern und blickte Yugi tapfer an. Er stellte sich gegen seine Angst und alle Gefühle in ihm. Er stellte sich gegen sein gesamtes Ich, gegen seine Existenz und alles, was ihn ausmachte. Er gab sich seinem Pharao hin. „Ich will dir mein Herz schenken.“

„Wenn es dein Wunsch ist, dann nehme ich dein Herz dankbar in meine Hände.“ Obwohl die Angst seine Handgelenke umklammerte und es zu verhindern suchte, die Augen aufriss und warnend fauchte, ihn davor warnte, etwas zu tun, was so wider die Natur stand, so zog der Seelenkern dennoch seine Hände auseinander. Ganz langsam glitt das strahlend blaue und diamanten funkelnde Krüppelherz in die Hände eines anderen. Er verschenkte sein Herz und damit sich selbst.

Der geschundene Seelenstein glühte kurz auf als er die kindlichen Hände verließ und eine neue Heimat fand. Yugis schloss behutsam seine Hände darum und nahm es an sich. Fort von der Angst, aber auch fort von dem Kind. Er nahm Setos Existenz an, so wie sie war.

Ein sanftes Goldstrahlen erfüllte den Raum und alles, was in ihm war. Das Herz verschwand in den pharaonischen Händen und ging ein in Yugis Seele. Er musste es nicht festhalten, er stieß es nicht ab. Er setzte es unter sein eigenes und schloss die Augen. Das Gefühl einer zweiten Existenz erfasste seine Seele. Anders als ein Yami, aber ähnlich nahe. Er fühlte sich dieser Existenz nicht verbunden und nicht verpflichtet. Er fühlte sie einfach. Fühlte das zweite Leben in sich. Es war selbstständig und nistete sich in ihm ein. Ein Fremdkörper, völlig getrennt von seiner eigenen Seele. Und doch, er fühlte Setos Existenz in sich. Fühlte sein Leben, seine Liebe und alles, was er war. Er fühlte seine Angst und seinen Schmerz, seine Treue, sein Genie, seine Instinkte und seine Magie. Und auch seine Unschuld, seine Frustration, seine Skepsis und seine Naivität. Und er liebte dieses Gefühl, für welches es keine Worte gab. Er spürte es in sich glühen wie einen zweiten Herzschlag. Nur ein Pharao konnte einen anderen Menschen so vollends in sich aufnehmen, ohne Bedenken oder Abscheu. Er nahm Seto an, so wie er war. Alles Schöne und alle Hässliche. Er nahm ihn an in seiner Gesamtheit.

So sehr liebte er ihn.

Doch er schloss dieses Gefühl nicht ein. Er nahm es an sich und öffnete es gegenüber der Welt. Er spürte wie die Energie der Erde durch ihn hindurch und um ihn herum strömte. Und er spürte wie das blaue Herz nach außen drängte. Es klopfte vorsichtig gegen seine Mauern und Ketten und erhielt ein Stück Freiheit geschenkt. Seine Lebensenergie kehrte in den Fluss allen Lebens und Vergehens zurück und schenkte seinem ehemaligen Eigentümer seine Kraft. Setos Lebensenergie floss zu ihm zurück, durch Yugis gütigen Willen. Nun war er von dieser Erde losgelöst und nur noch über seinen Pharao mit dem Leben verbunden. Yugi war nun die Nabelschnur, welche Seto mit der Kraft des Lebens verband.

Yugi öffnete die Augen und sah die Angst und das Kind dasitzen. Sie blickten ihn beide an. Das Kind erwartungsvoll und hoffend. Aber die Angst gleichzeitig misstrauisch und vorwürflich. Seto blieb derselbe Mensch, doch er konnte nun nicht mehr selbst über sich entscheiden. Nun lag die Bestimmung über sein Sein in anderen Mächten.

„Bist du beleidigt?“ fragte das Kind mit Zweifeln im Blick.

„Nein, ich bin stolz“ lächelte Yugi und berührte seine zarte Wange. „Ich liebe dich und ich danke dir für das wunderschöne Geschenk. Ich verspreche dir, ich werde gut für dich sorgen.“

„Jetzt kann ich stark werden“ antwortete das Kind und stand auf, befreite sich aus der Angst, welche den Kampf um sein Herz verloren hatte. Sie würde sicher keine Ruhe geben, würde weiter versuchen, es zu bekommen. Sie würde niemals aufgeben, doch sie war ein Teil von Seto und sie hatte ebenso ein Recht auf ihr Dasein wie alles an ihm. Und Yugi würde auch die Worte der Angst abwägen und beurteilen. Nur Setos Herz, das würde er nun niemals mehr zurückgeben. Er war es nun, welcher Seto mit Lebensenergie speiste und welcher über ihn bestimmte. Über all seine Träume und Hoffnungen und auch darüber, welche Stärke er erlangte.
 

Seto hatte das Rätsel gelöst und fand einen Weg sich und seine Existenz vollkommen zu unterwerfen und hinzugeben. Genau wie Sethos es prophezeit hatte.
 

Und Yugi spürte nun was es bedeutete, einen anderen Menschen vollkommen zu beherrschen und dass dies seinen Geliebten zerstören konnte. Genau wie Sethos es prophezeit hatte.
 

Doch Yugi würde alles tun, damit sie weiter gemeinsam leben und einander lieben konnten. Nichts sollte sie auseinander bringen. Keine übermächtige Magie, keine Götter und kein Schicksal. Nicht einmal sie selbst. „Ich werde für dich sorgen“ versprach er und entließ das Kind aus seiner Verpflichtung. „Ich werde dich und alles an dir lieben, immer und bis in die Ewigkeit. Indem du dich mir hingegeben hast, wirst du frei sein. Das verspreche ich dir.“

„Du sagst das schön.“ Das Seelchen wurde ganz rot im hellen Gesicht und schlug beschämt den Blick nieder.

„Fühlst du dich denn komisch jetzt?“ wollte Yugi wissen und strich über seine nackten Arme. „Hast du das Gefühl, dass dir etwas fehlt?“

„Nein.“ Und das sagte er ohne überhaupt nachzudenken. Er traute sich und blickte wieder zu ihm auf. „Jetzt muss ich nicht mehr auf mein Herz aufpassen, das machst du jetzt. Dafür kann ich auf dich aufpassen. Du bist jetzt mein Herz.“

„Ich bin dein Herz?“ Was für ein schönes Gleichnis.

„Aber jetzt muss ich stark werden. Sethos sagt, ich muss in Verbindung mit der Energie treten. Aber die Energie kommt vom Pharao. Also bin ich direkt an der Quelle. Wie eine Wasserquelle. Ich muss jetzt keine Angst mehr haben.“ Woraufhin die Angst hinter ihm angewidert zischte. Das nahm sie wohl persönlich.

„Das sagt man doch nur so“ beruhigte Yugi dieses überraschend zickige Bruchstück einer Seele. „Du wirst weiter auf Seto aufpassen. Aber übertreibe es nicht.“

„Von dir lasse ich mich nicht belehren“ flüsterte sie uns blickte ihn mit ihren ölschwarzen Augen stechend an. „Ich muss dich lieben, doch das hält mich nicht davon ab, dich ganz genau zu beobachten. Und wenn du auch nur einen Moment schwach wirst, wenn du mich auch nur einen Augenblick verlässt, werde ich …“

„Verkneife dir bitte die Drohungen.“ Und das sagte Yugi so frohgemut als hätte er um ein Stück Sahnetorte gebeten. „Ist euer Körper weit weg? Braucht ihr Hilfe? Tato kann die Schatten sicher von euch fernhalten, wenn wir ihn bitten.“

„Wir sind hergekommen. Da kommen wir auch wieder zurück.“ Und alles andere war eine freche Unterstellung.

„Gut“ nickte Yugi und streichelte den Kopf der kindlichen Seele. „Und lass dir Zeit, mein Herz. Setze dich nicht unter Druck, ich warte so lange auf dich wie es dauert.“

„Ich weiß. Aber ich will zurück zu dir. Ich strenge mich an und vielleicht ist Sethos dann stolz auf mich.“

„Das ist er dann ganz bestimmt. Wir sind alle stolz auf dich. Schon jetzt.“

„Ich weiß. Und wenn ich stark bin, dann … Yugi?“

„Was denn?“ Das klang nun aber besorgt.

„Meinst du, dass ich dann anders bin?“

„Selbst wenn, dann wäre das nicht schlimm.“ Das war etwas, worüber er auch bereits nachgedacht hatte. Wenn diese große Kraft Seto veränderte, was würde dann sein? Letztlich hatte Yugi ihn nicht zu Sethos gehen lassen, um einen möglichst mächtigen Magier zurückzubekommen, sondern vor allem um seine verletzte Seele zu stärken und ihm Selbstvertrauen zu geben. Veränderung war der Grund für all das hier. Jedoch war es auch ganz natürlich, dass Seto sich vor dem fürchtete, was mit ihm geschehen konnte. „Vielleicht veränderst du dich, vielleicht auch nicht“ sprach er mit sanfter, weicher Stimme. „Seit ich dich kenne, hast du dein Verhalten oft verändert, aber dich selbst hast du niemals geändert. Du bist und wirst immer derselbe Seto bleiben. Deine Wünsche, deine Träume und deine Nöte sind noch immer dieselben. Und deine große Liebe hat sich auch niemals verändert. Nur ob du die Gefühle zulässt oder nicht, das macht den Unterschied.“

„Und wenn ich die falschen Gefühle zulasse? Wenn ich ein schlechter Mensch werde?“ fragte er verunsichert. „Yugi, sagst du mir dann bescheid, wenn ich was falsch mache?“

„Ja, dann sage ich dir bescheid“ versprach er und hielt ihm den kleinen Finger zum Schwören hin. „Wir machen ein Versprechen. Ich sage dir, wenn du etwas anders machen kannst und du sagst mir, wenn du dich ohne Herz unwohl fühlst oder wenn du was von mir brauchst, okay?“

„Okay, wir müssen uns immer alles sagen. Noah sagt, Reden verhindert Probleme.“

„Ja, Noah ist ein weiser Mann“ lachte Yugi und hakte seinen kleinen Finger ein, wiegte ihn mit leichtem Druck.

„Und“ setzte der Kleine in seinem kindlichen Eifer hinzu. „Wir schwören uns ewige Liebe, ja? Schon wieder.“

„Ja, schon wieder“ versprach er auch das mit einem Lächeln und fühlte tief in sich eine Sicherheit. Sicherheit darüber, dass Seto sich niemals verändern würde. Er würde nur immer mehr er selbst werden. So wie man in der Mitte eines Labyrinths einen Schatz fand, so fand man in Setos Mitte etwas so reines und klares wie bei keinem anderen Wesen dieser Welt. Aber vielleicht war das auch nur die Formulierung eines schwer verliebten Pharaos.
 


 

Chapter 5
 

Es war richtig niedlich wie Dante vor sich hinkicherte und die einfachsten Sachen toll fand. Jetzt gerade das dicke, rosa Schwein, welches eigentlich immer sauber bleiben wollte und nun nach einem Schubs des Esels in der Schlammpfütze lag - und dabei zugeben musste, dass es ihm dort ganz gut gefiel. Noah hatte ihm das Bilderbuch gekauft und er liebte es. Er kicherte jedes Mal über die Schlammpfütze. Auch wenn er den wenigen Text schon mitsprechen konnte, suchte er dennoch ständig nach einem Doofen, der ihm das Buch vorlas. Und jetzt gerade war eben Sareth diejenige, welche dran glauben musste. Sie saß neben ihm auf dem Rücksitz von Noahs neuem Mercedes, lehnte sich auf seinen Kindersitz und musste sich mit dem jungen Kaiba jedes Bild ganz genau ansehen und sich darüber unterhalten, was da alles drauf war, wie das Schwein grunzte und der Esel wieherte und wie lange man wohl nach so einem Schlammbad richtig baden musste, um wieder sauber zu sein. Lesen mit Dante war ein Fulltime-Job. Und zu Noahs Erleichterung machte der Kleine auch mal was sinnvolleres als immer nur Unsinn mit Tato oder Mokuba.

Heute hatte Sareth sich kurzerhand der Einladung ihrer Onkel angeschlossen und begleitete sie zum Jahrmarkt in der Stadt. Immerhin schien die Sonne und die Bücherei hatte in den letzten zwei Wochen wegen Aufräumarbeiten geschlossen … wobei ihr wohl weniger die Bücher fehlten als mehr jemand bestimmtes, der dort arbeitete und der sich seit dem Flug zum Aquarium auch nicht mehr gemeldet hatte. Den Vormittag hatte sie auch heute dort im Aquarium verbracht, aber es herrschte nur gedrückte Stimmung. Um Sethos stand es noch immer schlecht. Die einzige Veränderung bestand in der Stärke seiner Blutung, welche mal ein wenig abheilte und dann wieder schlimmer wurde. Es war schwer mit dieser Ungewissheit einfach normal weiter zu leben. Sethos lag im Sterben, wie sollte man da überhaupt noch fröhlich sein?

Zumindest die Kinder wollte man ablenken, damit sie von den Sorgen der Erwachsenen nicht zu viel übernahmen. Und was war da besser als der Jahrmarkt? Noah und Mokuba hatten wenig Zeit und gemeinsame Unternehmungen waren selten geworden. Doch heute hatte Noah seine Termine verschoben und folgte Mokubas Vorschlag - also auf zum Jahrmarkt! In stiller Hoffnung auch darauf, dass Sareth ebenfalls Ablenkung fand. Sie sorgte sich sehr um Sethos, auch um Seto zumal der sein Herz fortgegeben hatte und überhaupt war sie wenig fröhlich. Aber Dantes Kichern heiterte sie wohl doch ein bisschen auf. Wenigstens einer der sorgenfrei herumlief und die anderen etwas mitzog.

Doch vielleicht zog Sareth heute auch noch etwas anderes mit, denn Noah verlangsamte seine Fahrtgeschwindigkeit und sah zum Fenster hinaus. „Sari, schau mal.“

„Was?“ Sie ließ die nächste Seite von Dante umblättern und schaute nach vorn.

„Schau mal, wer da draußen sitzt.“ Er wies nach rechts zu Mokubas Seite und tatsächlich! Da saß ihr Vermisster!

Am Gehweg vor einem dreistöckigen Bürogebäude auf einer kleinen Mauer. Er ließ die Beine herabbaumeln und beobachtete die Passanten, die an ihm vorbeiliefen. Seine Erscheinung wie immer etwas durcheinander, seine zerschlissenen Jeans, sein geknittertes, schwarzes Shirt und die ausgelatschten Schuhe. Doch seine Haare waren jetzt kürzer. Auch wenn die Frisur beim Friseur mit etwas Gel sicher gut aussah, war sie jetzt einfach nur gewaschen und hing lieblos platt herunter. Er legte eben nicht viel Wert auf solch schnöden Schönheitsquatsch. Abgelenkt wurde der Blick aber hin zu einem Greifvogel, der vertraulich nahe bei ihm saß. Nur etwa einen Meter neben ihm hockte ein einfarbig hellbrauner Falke mit leuchtend schwarzen Augen. Ein wunderschönes Tier, doch ungewöhnlich, dass diese sonst so scheuen Wesen mitten auf einer Gehwegmauer den Leuten zuschauten. Das taten sonst nur die Priesterfalken, doch den Gesellen dort kannte niemand. Zumal Edith wohl kaum sein Herr und Meister sein konnte.

„Guten Tag Edith“ grüßte Noah zu Mokubas geöffnetem Fenster heraus und hielt den Wagen an. Glücklicherweise war die Ampel hinter ihnen rot und somit niemand da, der hupen konnte.

Er hatte sie wohl schon kommen sehen, aber nicht mal gewunken. Und auch jetzt erübrigte er nur ein gelangweiltes „Tag“. Er wanderte mit den Augen nach hinten und sah Sareth hinter Dantes sperrigem Kindersitz. „Hey Prinzessin“ setzte er wenigstens noch leise hinzu.

„Hey Edith“ antwortete sie und irgendwie versagte die Klimaanlage auf den Rücksitzen gerade. Ihr wurde so komisch warm. „Was machst du da?“

„Sitzen.“ Für die ganz Langsamen, die es nicht sofort sahen.

„Das sehe ich“ antwortete sie nervös. „Ich meine, warum sitzt du da?“

„Warum nicht? Ist doch nicht verboten.“

„Nein, ich meine, hat das einen bestimmten Grund, warum du da sitzt? Wartest du auf jemanden?“

„Nö.“ Nun ja, vielleicht saß er ja wirklich einfach nur so da, weil er nichts anderes zu tun hatte. „Und was machst du?“

„Ich … na ja, ich lese ein Kinderbuch mit Dante.“ Sie zeigte das Bild des rosa Schweins hoch, doch ahnte schon, dass ihn das herzlich wenig rührte.

„Sari.“ Noah drehte sich nach hinten und lächelte ihr lieb zu. „Frag ihn doch, ob er mit auf den Jahrmarkt will.“

„WAS?!“ Jetzt wurde sie richtig nervös. Ihr Onkel hatte komische Gedanken. „Ich kann ihn doch nicht …“

„Warum denn nicht?“ Mokuba unterstützte Noahs Vorschlag und zwinkerte nach hinten. „Ihr seid doch befreundet. Oder nicht?“

„Ich … ähm …“ Oh je! Sie hatte damit gerechnet, dass sie eine Runde mit Dante Kinderkarussell fuhr, ein bisschen Dosen umwarf und am Schluss noch was mit den dreien essen ging. Von einem Date unter Aufsicht von Erwachsenen war hier nie die Rede gewesen.

„Wir verraten es auch deinem Papa nicht“ versprach Onkel Mokuba, der auch ahnte, woher dieses tiefe Rot auf ihrem Gesicht kam. Ganz schwer von Begriff war er nicht und dass sie und der ungehobelte Junge sich gut riechen konnten, war ja auch kein großes Geheimnis mehr.

„Er hat bestimmt keine Lust auf solchen Kinderkram“ rechtfertigte sie sofort.

„Och, ich mag Jahrmärkte auch ganz gern. Ist ja nicht nur für Kinder“ flüsterte Noah nach hinten. „Jetzt frag ihn schon. Mehr als nein sagen, kann er doch nicht. Oder soll ich ihn fragen?“

„NEIN!“ Oh Gott, wie peinlich! Das kriegte sie ja wohl hoffentlich noch selbst hin. So lehnte sie sich über Dante hinüber, um besser hinaussehen zu können. „Du Edith … ähm … wir sind … also, wir sind auf dem Weg zum Jahrmarkt und …“

„Schon klar“ meinte er und lehnte sich zurück auf die Hände. „Fahrt weiter, sonst kriegt der Alte noch einen Strafzettel.“

„Der Alte?“ Noah horchte auf und hoffte, dass damit doch wohl hoffentlich nicht er sondern der Oldtimer gemeint war. Obwohl der Oldtimer ganz neu war - der war fabrikneu.

„Nein, ob du mitkommen willst.“ Jetzt war es doch raus. Er guckte sie erst mal nur an, schien nicht besonders interessiert. „Also ich … das wäre schon cool, wenn du … du musst ja nicht, aber vielleicht … wenn du nicht anderes zu tun hast … du hast keine Lust, oder?“

„Eigentlich finde ich Jahrmärkte zum Kotzen.“

„Du musst ja nicht, aber … aber ich … würde mich sehr freuen, wenn du … aber wenn du nicht willst.“

„Ich störe doch nur. Fahr mal alleine zum Familienausflug.“

„Das ist kein Familienausflug“ sprach Mokuba fröhlich zum Fenster hinaus. „Sari freut sich, wenn du mitkommst also warum willst du hier rumsitzen? Oder hast du doch was anderes vor?“

„Nicht wirklich.“

„Dann lass dich doch nicht so lange bitten. Wenn du keinen guten Grund zum Rumhängen nennen kannst, solltest du auch keine Körbe verteilen.“

„Onkel Moki!“ Das wurde noch richtig peinlich hier! Warum musste er sich da einmischen?

Trotzdem sprang Edith von seiner Mauer und kam langsam zu ihr rüber. „Aber nur, wenn du mich wirklich mitnehmen willst. Du musst nicht höflich sein, Prinzessin.“

„Ach Quatsch. Spring hinten rein“ zeigte Mokuba und lotste ihn auf die andere Seite.

Sareth saß eh schon auf dem Mittelsitz neben Dante und somit war dort noch genug Platz für einen Passagier mehr. Wie selbstverständlich stieg Edith ein und setzte sich nach hinten. Den hellbraunen Falken ließ er dort einfach sitzen. Und dort blieb er auch und sah ihm unbewegter Mine nach.

Noah atmete sich erst mal die Falten weg und konnte losfahren, bevor der nachfolgende Verkehr sie erreichte. Um die Mittagszeit war auf diesen Seitenstraßen wirklich nicht viel los, zumal das hier eine Straße war, in welcher hauptsächlich Behördenbüros waren. Und die arbeiteten auf einem Mittwoch bekanntlich nur bis Mittag.

„Schnallst du dich bitte an?“ bat Noah und hörte dann mit Beruhigung das Klicken von Ediths Gurt.

„Sari guck!“ Jetzt forderte Dante aber wieder seine Aufmerksamkeit. „Das is das Huhn. Wie macht das Huhn?“

„Ich weiß nicht.“ Sie konnte doch hier vor Edith nicht das Gackern anfangen. „Wie macht denn das Huhn, Danti?“

„Gack gack gack! Gooooock! Gooooock!“ machte er und freute sich köstlich über sich selbst. Er liebte Tiergeräusche.

„Der Falke da draußen“ fragte Mokuba endlich und drehte sich zu den Kindern nach hinten. „War das deiner?“

„Nö.“ Er blickte ihn kurz an, aber dann auf Sareths Knie. „Das Vieh ist mir zugeflogen und verfolgt mich.“

„Es verfolgt dich?“

„Keine Ahnung. Anscheinend“ zuckte er mit den Schultern. „Aber wenn’s kein Futter kriegt, zieht es irgendwann wieder ab. Ist wie bei Krähen.“

„Krähen?“ guckte Sareth. „Wie kommst du jetzt auf Krähen?“

„Sari, wie machen Krähen?“ wollte der Kleine sofort wissen.

„Ich weiß nicht. Wie machen denn Krähen?“

„Krah! Krah!“ Tiere waren super!

„Aber warum Krähen, Edith?“

„Wenn man sie füttert, bleiben sie und brüten. Wenn sie nichts kriegen, hauen sie wieder ab. Ich denke, du bist so schlau.“

„Na ja, Edith“ bemerkte Mokuba skeptisch. „Falken sind aber keine Krähen. Besonders nicht, wenn sie so anhänglich bei einem Menschen sind.“

„Was weiß denn ich? Ich hab das Vieh nicht angelockt.“

„Aber er war hübsch. Sehr hübsch“ versuchte Sareth ihn aufzuheitern. „Hast du ihm einen Namen gegeben?“

„Unsinn.“

„Weißt du denn wenigstens, ob es ein Männchen oder ein Weibchen ist?“

„Natürlich.“ Er zog seine vernarbte Augenbraue hinauf und sah sie pikiert an. „Ich habe nichts anderes zu tun als mir die Geschlechtsteile von Tieren anzugucken. Prinzessin, echt mal.“

„Natürlich … tschuldigung.“ Hach, warum stellte sie nur immer so blöde Fragen? Edith war auch ganz schön ablehnend. Sie hatte sich schon in den letzten Tagen gefragt, warum er sich so gar nicht bei ihr meldete. Er wusste ja, wo sie wohnte und wo sie so hinging. Aber seit sie sich vor fast zwei Wochen im Aquarium das letzte Mal sahen … er hatte gar nichts mehr von sich hören lassen.

„Komisches Kleid“ bemerkte er und blickte an ihr rauf und runter.

Sie trug heute einen dunkelroten Sari mit gelber Rankenbestickung und einer am Gürtel angenähten Tasche. Dazu leicht erhobene Stoffsandalen und etwas gewellte Haare. Eigentlich hatte sie diesen Sommerdress nur angelegt, weil Onkel Noah sie darin so gern sah. Sie hatte ja nicht erwartet, damit heute in die Öffentlichkeit zu gehen.

„Ähm ja … etwas merkwürdig für einen Stadtgang, oder?“

„Ziemlich merkwürdig. Aber okay.“ Wobei ‚okay‘ aus seinem Munde fast ein Kompliment war. „Wenigstens siehst du nicht so nuttig aus wie die anderen Tussen.“

„Sari!“ Und Dante verstand nicht ganz, warum sie nicht auf sein flehentliches Gucken und Armstreicheln reagierte. „Liest du mir vor? Was steht da? Das Schwein.“

„Danti, möchtest du Bob hören?“

„BOB! JA!“ Mokuba hatte einfach die besten Ideen. Er kramte im Handschuhfach und schob eine CD in den schweigenden Player, welcher daraufhin mit fröhlichem Kindersingsang begann. Dante liebte Bob den Baumeister, der war im Kindergarten gerade total angesagt. Da konnte er stundenlang hinhören. Und Sareth konnte sich etwas unbeobachteter mit Edith unterhalten. Auch wenn der nur zum Fenster hinaussah.

„Du“ sprach sie ihn leise nochmals an. „Du hast dich gar nicht mehr … ich meine …“ Aber sich aufzuführen wie ein Waschweib von wegen ‚Du hättest dich ja mal melden können‘ wollte sie dann auch nicht. „Ich habe dich gar nicht mehr in der Bücherei getroffen.“

„Schwer, wenn da wegen Umbau zu ist.“

„Du … auch woanders nicht. Ich habe immer geguckt, ob ich dich irgendwo sehe.“

„Ich war in der Bücherei. Regale aufbauen und rumschieben. Für das neue Schuljahr machen die da so Terz wegen irgendwelchen Schreibtischen. Keine Ahnung.“

„Na gut. Ich dachte … ich habe dich irgendwie vermisst.“

„Echt?“ Jetzt sah er sie doch an und war sichtlich überrascht. „Wieso?“

Und die beiden Onkels auf den Vordersitzen mussten sich das Lachen verkneifen. Der Kerl war doch echt schwer von Begriff.

„Wieso nicht?“ antwortete sie nestelte nervös an ihrem Rock, während Bob seine Lieder über Bagger sang. „Ich dachte, wir … ist ja auch egal.“

„Ich dachte, du bist voll sauer auf mich.“

„Warum?“ Er dachte, sie wäre sauer? „Habe ich das gesagt?“

„Du hattest meinetwegen Probleme. So blöd bin ich nun auch nicht, dass ich das nicht merke. In Kämpfe von Pharaonen sollte man sich nicht einmischen. Das hätte ich lassen sollen.“

„Ohne dich hätten wir Sethos nie so schnell ins Aquarium fliegen können. Du hast uns geholfen.“

„Nachdem ich euch reingefunkt hatte. Ich wollte mich ja entschuldigen, aber dein Vater …“ Tato hatte wahrscheinlich so giftig geguckt, dass jeder die Flucht ergriffen hätte. „Ich dachte, es ist besser, wenn ich mich nicht mehr blicken lasse.“

„Ach, bei Papa darfst du dir nichts dabei denken. Der war nur gestresst und ich … tut mir leid, ich war so fertig, dass ich mich auch nicht richtig für deine Hilfe bedanken konnte.“

„Schon gut.“ Das war eben nicht der rechte Ort und nicht die rechte Gelegenheit gewesen, um herumzuturteln. „Wie geht’s denn deinem Fischfreund?“

„Sethos“ erklärte sie und seufzte betrübt. „Es geht ihm ziemlich schlecht. Wir wissen nicht, ob er … vielleicht … es sieht nicht so gut aus.“

„Verstehe“ bemerkte er und sah zum Fenster hinaus. „Ich renne dir nicht mehr nach. Dann passiert so was nicht mehr.“

„Habe ich dich deshalb nicht getroffen? Weil du dachtest, ich wäre böse auf dich?“

„Na ja … ich an deiner Stelle würde mir aus dem Weg gehen.“

„Das will ich aber gar nicht.“ Sie sammelte ihren Mut und schob vorsichtig die Hand zu seinem Ellenbogen, berührte ihn zaghaft. „Oder willst du mir lieber aus dem Weg gehen?“

„Quatsch.“ Na dann war doch wohl alles geklärt. Er schaute sie sogar kurz an und darüber hinaus war er freiwillig hier eingestiegen. Also war er nicht ganz auf Abstand aus. „Kann ich mal was sagen?“ sprach er dann etwas lauter nach vorn. „Da hinten rechts rum geht’s schneller. Auf der anderen Straße ist ne Baustelle.“

„Oh. Okay.“ Noah sah also von seinem Kurs ab und wechselte die Spur nach rechts. Er merkte schon, dass der Verkehr hier dichter wurde und die meisten links abbogen, aber das konnte auch daran liegen, dass bei dem schönen Wetter mehrere Leute zum Jahrmarkt wollten. „Woher weißt du denn das?“

„Da stand mein Bus vorhin im Stau. Links ist echt besser. Da geht’s auch schneller zum Glorienplatz.“

„Ja, ich sehe es schon.“ Noah konnte hier sogar die Parkplätze ausgeschildert sehen. „Ist wohl ein Geheimtipp, was?“

„Nur der Nebeneingang. Man muss ja nicht immer vorne rum.“

„Gut, dass wir dich eingepackt haben“ lächelte Mokuba und drehte sich zu ihnen herum. „Danti, möchtest du was trinken?“ Aber dann sah er, dass der Kleine sein Buch nur schwerlich auf dem Schoß festhielt und die Augen halb geschlossen hatte. Mit seinem offenen Mund sah er zum Knutschen süß aus. Es dauerte nicht mehr lange und die Müdigkeit würde ihn dahinraffen. „Hach, Kinder schlafen so wunderbar schnell ein.“

„Er hatte heute keinen Mittagsschlaf“ erklärte Noah nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel.

„Na dann ist das kein Wunder, wenn er pennt.“

„Nich penn“ murmelte Dante und hob seinen Kopf. Aber hier im warmen Auto ohne Beschäftigung fehlte ihm seine Mittagsruhe doch.

„Sari, nimm ihm doch bitte mal das Buch ab.“ Vorsichtig entfernte sie das Buch und gab es nach vorn, wo Mokuba es verstaute. „Zum Glück haben wir den Buggy mit. Dante, möchtest du gleich im Buggy fahren?“

„Ja. Nich laufn.“ Schöner war gefahren werden.

„Wenn er die vielen Süßigkeiten sieht, wird er schon wieder munter“ meinte sie, denn welches Kind konnte schon den ganzen Jahrmarkt verschlafen? Noch dazu den ersten seines jungen Lebens. „Warst du schon auf dem Jahrmarkt?“ fragte sie den anderen Jungen zur Linken.

„Bin mal rübergelaufen. War blöd“ beantwortete der kurz.

„Dann warst du mit den falschen Leuten da“ meinte Mokuba. „Mit uns wirst du sicher Spaß haben.“

„Ich war allein da.“

„Oh.“ Umso schlimmer. „Dann wirst du erstrecht Spaß haben.“

„Allein auf dem Jahrmarkt?“ stutzte Sareth. „Was macht man denn allein auf dem Jahrmarkt?“

„Sagte ich doch, ich bin rübergelaufen.“

„Du meinst, du hast ihn nur passiert? Ohne dir was anzusehen?“

„Du tust ja so als sei das verboten.“

Sie seufzte leise, aber wirklich schlimm fand sie sein barsches Benehmen nicht. Er war nun mal ein Einzelgänger und für bunte Glitzerwelten nicht zu haben. Umso süßer, dass er ihretwegen trotzdem mitkam. „Ich freue mich jedenfalls, dass du mitkommst. Ich bin sehr gern mit dir zusammen.“

„Wenn du meinst.“ Er war geschmeichelt, das sah sie ihm an. Aber da ihre beiden Onkel vorn saßen, konnte er auch nicht aus seiner Haut. Eigentlich war er ganz lieb, aber zeigen mochte er das nicht. Noch nicht. Vielleicht taute er ja etwas auf, wenn er sah, dass ihre Familie nicht so abgehoben war und auch nicht auf ihn herabsah. Er hatte sich seine Lebensumstände nicht ausgesucht.

„Sind die Parkplätze kostenlos?“ Noah sah sich um, nachdem er den Wagen irgendwo in eine der Parklücken bugsiert hatte.

„Hase, da kommt schon einer zum Abkassieren“ zeigte Mokuba aus dem Fenster. Da kam eine runde Frau in dunkler Uniform auf sie zu. Wohl der Parkdienst. „Du bezahlst und ich bette den Kleinen um.“

„Gute Arbeitsteilung.“ Noah stellte den Motor aus und öffnete die Tür.

Mokuba sprang ebenfalls raus und ging gleich an den Kofferraum, um die Kinderlimousine aufzuklappen.

„Ich bin froh, dass du mitkommst“ sagte Sareth ihm noch mal. Nun wo sie unter sich und ohne fremde Ohren waren. „Ich hatte wirklich Angst, du willst jetzt nichts mehr von mir wissen.“

„Unsinn, warum sollte ich so blöd sein?“ erwiderte er und sah sie ernst an. „Und du bist dir sicher, dass du dich mit mir abgeben willst?“

„Natürlich, du hast mir riesig gefehlt. Wie kannst du nur glauben, ich wolle dich nicht sehen?“

„Na ja …“ Wie sollte er das treffend ausdrücken ohne sich zu tief reinzureden? „Ich passe ja nun nicht so richtig zu dir. Ich habe gesehen wie besorgt alle um diesen Fischmenschen waren und irgendwie … ich passe eigentlich gar nicht in dein Leben. Ich meine eine Prinzessin wie du und ein Abschaum wie ich. Und der Blick deines Vaters hat mir ja eindeutig zu verstehen gegeben, dass ich …“

„Du sitzt hier aber nicht mit meinem Vater“ unterbrach sie sofort und glänzte ihn mit ihren intensiv blauen Augen an. „Du bist der erste Junge, den ich wirklich richtig mag. Du bist kein Abschaum. Es ist mir egal, wie deine Vergangenheit war. Ich meine, egal ist es mir natürlich nicht, denn du bist mir wichtig. Aber ich … ich weiß nicht wie ich das richtig erklären soll. Ich muss ständig an dich denken und ich … ich mag dich einfach so wie du bist. Und wenn du mir sagst, dass wir nicht zusammenpassen, dann tut mir das weh. Ich finde nämlich, dass wir gut zusammenpassen. Ich meine … wenn du das auch willst.“

„Auf mich kommt es dabei nicht an. Du bist diejenige, die zustimmen muss“ meinte er leise und schweifte zum Fenster hinaus. „Ich kann glücklich sein, dass ein Mädchen wie du überhaupt mit mir redet. Ich meine, du bist der Jackpot und ich … ich habe noch nie was gewonnen.“

„Dann sag so was nicht noch mal“ lachte sie verlegen und haute ihn auf den Arm. Doch natürlich nicht wirklich schmerzhaft. „Und melde dich zwischendurch mal.“

„Wenn du das willst, mache ich das“ versprach er und ihr Herz hüpfte, als sie sein schiefes Lächeln sah. Er wirkte jetzt erleichtert, dass sie ihn nicht abschob. „Du hast mir auch gefehlt, Prinzessin.“

„Du mir auch, Froschprinz“ lachte sie und lehnte sich an ihn. „Ich wollte schon immer mal ein Date auf dem Jahrmarkt haben. Das sieht man sonst nur im Fernsehen.“

„Na ja, ich habe gar keine Glotze“ meinte er und senkte seine Stimme. „Ich wusste gar nicht, dass intelligente Leute wie du überhaupt fernsehen.“

„Natürlich sehe ich fern“ meinte sie überrascht und blickte zu ihm auf. „Hast du echt gedacht, ich gucke nie auch mal was Sinnfreies?“

„Ich dachte, du liest nur.“

„Lesen tue ich viel, aber ich sehe auch gern fern. Am liebsten Telenovelas oder Liebesfilme.“

„Liebesfilme gucken die dummen Weiber bei uns im Gemeinschaftsraum immer. So was findest du gut?“

„Klar, ich bin romantisch veranlagt. Das habe ich von meinem Onkel, der hat mit mir immer Liebesschnulzen geguckt als ich klein war. Das prägt. Ich bin total romantisch und vielleicht finde ich ja bald jemanden, bei dem ich romantisch sein kann.“

„Aha.“ Jetzt bekam er trotz aller Coolness einen fetten Kloß im Hals. Das hörte sie schon an seiner Stimme, sogar in seinem laut besorgten Gedanken. >Und ich Trampel hab wieder voll keine Ahnung.<

„Aber wenn du mir sagst, dass du mich magst, bin ich das glücklichste Mädchen der Welt.“ Und dass sie manchmal einen Gedanken auffing, sagte sie ihm lieber (noch) nicht. Sonst würde er nur Beklemmungen bekommen. Sie legte ihm die Hände an die Arme und rutschte zu ihm auf, blieb ihm ganz zugewandt. Sie wünschte sich, er würde die Gelegenheit endlich nutzen, um sie vielleicht noch mal zu küssen.

„Na, du bist ja einfach zu beglücken“ meinte er und rutschte zurück. „Willst du raus?“

„Aussteigen müssen wir wohl schon irgendwann. Aber mit dir kuscheln ist auch gut. Wie du willst.“

„Ich meine nur, weil dein Onkel die ganze Zeit da draußen steht.“ Tatsächlich war Mokuba so galant und wartete draußen bis die beiden von selbst rauskamen. Er wollte zwar den schlafenden Dante in die Karre setzen, aber die zwei auch nicht stören. Noah löste sein Parkticket mit einem unfreiwillig großen Geldschein und brachte die Parkwächter in wirkliche Probleme beim Wechselgeld, aber Mokuba tat nur so als ob er rauchen wolle.

„Ja, wir sollten wohl aussteigen.“ Schade, sie hätte gern noch etwas in seinem Arm gesessen, aber vielleicht ergab sich später noch eine Gelegenheit. Sie selbst hatte vor ihren Onkels keine Bedenken. Besonders nicht vor Onkel Noah, der wahrscheinlich der einzige war, mit dem man normal über so was reden konnte. Und Mokuba hielt sich mit doofen Sprüchen zurück, der würde auch zuhause dicht halten. Davon abgesehen war Onkel Moki ein fantastischer Lügner. Außerdem wollte sie auf keinen Fall in Edith den Verdacht wecken, dass sie sich für ihn schämte. Je mehr Abstand sie nahm, desto mehr würde er das denken. Also musste sie ihm sogar offen zeigen, wie sehr sie sich über ihn freute.

„Ist es wirklich okay, wenn ich mitkomme?“ fragte Edith und stieg langsam aus.

„Klar, sonst hätten wir ja nicht gefragt.“ Sareth folgte ihm und sah wie Mokuba seine Zigarette austrat und ihr kurz zuzwinkerte. Er hatte also tatsächlich extra gewartet bis er die Tür öffnete und den Kleinen aus dem Sitz pulte. Der schlief dabei einfach weiter, aber würde schon noch früh genug wach werden.

Sareth sortierte sich erst mal, ordnete ihren Rock und den Taschengürtel. Dabei bemerkte sie Ediths Blick auf ihrem Körper, was sie kurz verunsicherte. In diesem roten Dress war sie sehr auffällig, auch wenn die anderen sagten, sie sähe niedlich aus. „Bin ich dir zu overdressed?“

„Wenn das heißen soll, dass du cool aussiehst, dann ja.“ Er steckte die Hände in die alte Jeans und sah sie durchdringend an.

„Overdressed bedeutet eigentlich, dass man zu auffällig für einen schlichten Anlass gekleidet ist. Ich meine …“

„Lass dir nix einreden. Du bist ne Bombe.“

Mokuba konnte jetzt doch sein Kichern nicht mehr verbergen und auch Sareth schüttelte innerlich den Kopf. Das mit den Komplimenten war echt nicht sein Ding.

„Dann bin ich ja beruhigt.“ Aber der Wille war erkennbar.

„So, wir können bis ins nächste Jahrtausend parken und Kleingeld habe ich auch“ verkündete Noah, legte den Parkschein nach vorn und sah dann die beiden Jugverliebten an, die mindestens einen Meter Sicherheitsabstand hielten. „Edith. Schön, dass du mitgekommen bist“ lächelte er dann, während er zu Mokuba rüberging. Er ahnte, dass übertriebene Höflichkeiten bei Edith nur Unwohlsein hervorriefen und deshalb hielt auch er etwas Abstand, damit er sich erst mal an die ungewohnten Menschen gewöhnen konnte. Er erwartete aus der Richtung auch gar keine Antwort. „Häschen, klappt das alles bei dir?“

„Ich habe ihn schon angeschnallt“ antwortete der und schob den kleinen Schlafenden zu ihm herum. „Ich habe auch seinen Saft eingepackt und Wechselsachen. Und sein Sonnenhütchen.“ Welches er ihm in diesem Moment auf das blonde Haar legte. „Ist der Ausflug so genehmigt, Papahase?“

„Ganz wunderbar. Und bei euch? Habt ihr alles?“

„Ja, alles eingepackt“ lächelte Sareth ihren Schwarm an. Doch gerade als sie ihm näherkam, drehte der sich um und ging voraus.

„Da hinten geht’s auf den Glorienplatz.“

Jetzt seufzte sie doch etwas lauter, aber das hörte er nicht. Er war eben kein geübter Gentlemen wie Onkel Noah, der genau jetzt seinen Arm um sie legte.

„Alles okay, Schätzchen?“

„Ja, alles prima. Danke, dass Edith mitkommen darf.“

„Er ist nicht gerade ein Sunnyboy“ schmunzelte er, denn ein solcher würde nicht einfach schon mal vorlaufen. „Aber den biegst du dir noch zurecht.“

„Meinst du?“

„Klar, hast du seine Augen gesehen? Er ist total verschossen in dich. So was sehe ich sofort.“

„Und was siehst du bei mir?“

„Das behalte ich für mich“ lächelte er und küsste ihre Wange. „Aber ich kann verstehen, dass du was an ihm findest. Ich finde ihn auch sehr süß. Ehrlich, ein ganz süßer Bursche.“

„Das habe ich überhört.“ Natürlich war Mokuba nie weit fort und sah Noah sehr prüfend an. „Der ist doch viel zu jung für dich alten Sack.“

„Kommt, sonst läuft er uns noch weg“ und zog Sareth mit sich. Edith ging zum Glück nicht besonders schnell, sodass sie ihn leicht erreichten.

„Onkel Noah“ flüsterte Sareth ihm vertraulich hinauf. „Findest du es schlimm, wenn ich … bei ihm gehe?“

„Nein, immer ran an den Mann.“ Er entließ sie nach vorn und fröhlich hoppelte sie zu ihm. Jeder normale Mensch sah, dass sie gern seine Hand oder seinen Arm nehmen wollte, aber er bemerkte das so wenig, dass sie nur nebenherlaufen konnte. Von Romantik hatte er wirklich keinen Schimmer.

„Waren wir auch mal so?“ seufzte Mokuba, der mit dem Kinderwagen möglichst sanft über den Schotterplatz steuerte.

„Wir? Nein. Nie“ lachte Noah und legte seinen Arm um ihn. „Du hast dich noch offensichtlicher an mich rangeschmissen.“

„Würde ich jetzt auch noch, aber du …“

„Jetzt sag nichts falsches.“

„Dann sage ich gar nichts mehr. Du kannst schieben.“ Er ließ die Karre einfach los und übergab Noah den Chauffeurjob. Er selbst musste erst mal eine neue Zigarette zücken und anzünden.

„Hast du nicht eben schon geraucht?“

„Da musste ich zwei Drittel austreten. Jetzt noch mal richtig.“ Er steckte das Feuerzeug wieder weg, nahm die Zigarette in die andere Hand und hakte sich in Noahs Arm. „Schon ziemlich eifrig wie sie an ihm rumbaggert.“

„Tja, den hat sie sich ausgesucht“ stimmte Noah zu und blickte zu den beiden vor. Was sie zueinander sagten, war nicht zu hören, aber dass Sareth sich sehr zu ihm hingezogen fühlte, war mehr als nur offensichtlich.

„Meinst du das wird was mit den beiden?“

„Das wird man sehen“ beschied er neutral. „Was glaubst denn du?“

„Oberflächlich betrachtet, passen sie überhaupt nicht zusammen“ überlegte Mokuba und atmete seinen Tabak ein. „Aber wenn einen Drachen erst die Liebe ereilt, ist ihm doch eh alles andere egal. Ich glaube nicht, dass wir Sari das ausreden könnten, selbst wenn wir es versuchten. Ich mache mir eher Sorgen darum, was passiert, wenn sie nicht zusammenbleiben können.“

„Du meinst, weil sie irgendwann in die Zukunft zurückmuss“ ergänzte Noah schweren Herzens. „Ja, das macht mir auch Kopfzerbrechen.“

„Ob sie sich darüber überhaupt im Klaren ist? Ich meine, sie weiß doch, dass Edith schlecht mit ihr gehen kann.“

„Wie du schon sagtest, Häschen, dem Drachen ist das egal.“

„Ja, ich weiß. Aber ich hoffe, sie endet nicht wie Tato mit gebrochenem Herzen. Du weißt doch, dass sich diese Art von Menschen selten zwei Mal zu verlieben. Wenn Sari das zu weit treibt, verliebt sie sich vielleicht zu sehr in ihn.“

„Ich glaube, das hat sie schon“ seufzte Noah leise. „Sieh sie dir nur an. Bei ihm öffnet sie sich, blüht richtig auf. Ich bin nicht fürs Kuppeln, aber ihr den Kontakt schlecht zu reden, wäre wohl der falsche Weg. Wir sollten das einfach laufen lassen, denn unterbinden können wir es eh nicht. Wir können ihr nur den Rücken stärken, damit sie nicht etwas Dummes hinter unserem Rücken tut.“

„Positiv denken, mein Hase.“ Mokuba drückte seinen Arm und ging ganz dicht bei ihm. „Wenn es diese Verbindung wirklich geben soll, wird es sie auch geben. Und dann finden die beiden auch einen Weg.“ Doch er musste leise lachen als Sareth versuchte, seine Hand zu greifen, aber er diese schnell in die Tasche steckte und sich wohl dafür schämte, sie angerempelt zu haben. Er merkte offensichtlich nicht, was sie von ihm wollte. „Sobald er was checkt natürlich.“

„Ich weiß ja offiziell nicht viel, aber ich glaube, die beiden sind sich näher als wir denken“ mutmaßte Noahs geschulter Romantiksinn. „Sie würde nicht so offensiv sein, wenn sie sich sehr unsicher wäre.“

„Du meinst, da ist schon was gelaufen? Sari ist doch erst zwölf.“

„Fast 13.“

„Wie auch immer.“

„Es ist ganz normal in dem Alter mit Jungs anzufangen. Außerdem ist sie geistig reifer als andere. Und ich denke auch so reif, dass sie genau weiß, wie weit sie in ihrem Alter gehen kann.“

„Na, ob er das auch weiß?“

„Na ja, ich denke schon, dass er über das mit den Bienchen und Blümchen bescheid weiß. Und auch darüber, dass sie eine gute Erziehung genossen hat.“

„Nein, ich meine er kommt mir nicht so vor als würde er sonderlich scharf auf sie sein. In ‚diesem‘ Sinne meine ich. Sie scheint viel reifer zu sein als er. Er benimmt sich wie ein ahnungsloser Zehnjähriger, der lieber mit Autos spielt als mit Mädchen.“

„Ich glaube, er ist nur gehemmt, weil wir hier sind und ich finde, wir sollten ihm ne Chance geben. Schließlich wissen wir nicht mehr über ihn als dass er wohl aus dem Zirkel kommt und ein Meister in Windmagie ist. Aber was er für Erfahrungen im Umgang mit Menschen gemacht hat, wissen wir nicht. Also schauen wir doch erst mal, was er für ein Typ ist, bevor wir urteilen. Ich denke, wenn Sari ihn mag, muss er ein guter Kerl sein. Sie hat Geschmack bei Jungs.“

„Ja. Schon klar.“ Allein wie Mokuba das sagte, lief dem armen Noah eine Gänsehaut über den Arm. Diesen Tonfall kannte er gut. „Wie du schon gesagt hast, findest du ihn ja wohl ziemlich … wie sagtest du noch gleich? Süß?“

„Häschen, du weißt doch genau wie das gemeint war.“ Oh, da kam gleich ein Schlagloch. Wenn er da rüber fuhr, wachte Dante vielleicht auf … das wäre gerade ganz passend.

„Ich denke mir schon wie du das meintest. Nur verstehe ich es nicht. Was zieht dich zu jemandem hin, der so ungebildet redet und verlottert ist? Vorsicht Schlagloch.“

Mist, Mokuba hatte sein Ablenkungsmanöver verhindert und den Kinderwagen zur Seite gedrückt. Da blieb nur noch rausreden. „Moki, es zieht mich gar nichts zu ihm hin. Ich denke nur einfach, dass er vielleicht trotz allem ein gutes Herz hat. Mehr nicht.“

„Und jeder, der ein gutes Herz hat, ist also automatisch süß, ja?“

„Haaaach, bitte. Lass doch die Eifersucht.“

„Dann lass du die Seitenblicke.“ Und der Griff um seinen Arm konnte gar nicht fest genug sein. „Wenn du auf verlotterte Typen stehst, ändere ich gern meinen Stil. Nur jünger machen, kann ich mich leider nicht.“

„Du weißt doch, dass ich deinen Stil mag. Ich habe nur gesagt, dass ich Edith nett finde.“

„Nein, das Wort war süß.“

„Süß finde ich auch kleine gelbe Küken, da ist nichts zum eifersüchtig werden.“

„Nein, du hast keinen Sinn für Tierbabys. Süß heißt bei dir was anderes. Außerdem warst du derjenige, der ihn am Straßenrand entdeckt hat.“

„Du hast Recht, ich werde Sareth den Freund ausspannen.“

„Mann, jetzt sei doch mal ernst, Noah!“

„Nein, sei du ernst.“ Er sah ihn an, in seine pechschwarzen Augen welche im Sonnenlicht mystisch funkelten. Wie konnte nur jemand mit solch einem intensiven Blick wie Mokuba sich selbst so leicht verdrängt fühlen? Auch wenn Noah wusste, dass sein Schatz nicht absichtlich eifersüchtig wurde, kam dieses Misstrauen manchmal aus den merkwürdigsten Ecken. „Häschen, ich liebe dich. Ja, ich finde Edith hat etwas interessantes an sich, aber …“

„Aha. Danke.“

„Aber!“ Setzte er noch mal ernster an. „Du weißt, dass ich niemals fremdgehen würde. Das kränkt mich ja auch, wenn du mir so was unterstellst.“

„Das habe ich dir auch gar nicht unterstellt.“

„Worauf soll dann diese Diskussion hinauslaufen?“

Darauf musste Mokuba erst mal tief durchatmen und eine Sekunde nachdenken. Er wusste ja gar nicht, ob er überhaupt auf etwas hinauswollte. Es wurmte ihn nur einfach, wenn Noah zu positiv oder zu lange über jemand anderen redete. Dann bekam er das Gefühl, weggeschoben zu werden. Auch wenn er genau wusste, dass das niemals passieren würde. Nur dass er seinen Liebsten mit seiner Eifersucht sehr einengte. „Ich will auf gar nichts hinaus. Schließlich habe ich Edith ja auch eingeladen, mehr sogar als du. Ich habe nur nicht gewusst, dass du ihn süß findest.“

„Dafür hast du dich eben aber gut zurückgehalten.“ Zumindest bis sie unter sich waren. Die öffentlichen Szenen versuchte Mokuba abzustellen und das war ein echter Fortschritt.

„Ich will dich nur daran erinnern, dass du mit mir zusammen bist. Du brauchst außer mir niemanden. Du weißt, dass ich alles für dich tun würde. Das wollte ich nur klarstellen.“

„Verstehe.“ Er lehnte sich zu ihm herunter und flüsterte vertraulich in sein Ohr. „Wenn du mich das nächste Mal an deine Vorzüge erinnern möchtest, darfst du das viel lieber dann tun, wenn wir die Tür zumachen und du das ein wenig freizügiger formulieren kannst.“

„Ich verstehe. Leg dich hin, wir müssen reden. Dafür bin ich dir gut genug, ja?“

„Mokuba, bitte. Du weißt, dass ich nur dich liebe und es keinen Grund gibt, mir irgendwas zu unterstellen. Ich würde uns niemals infrage stellen.“

„Das war jetzt auch nur ein Witz. Ach, Noah.“ Er schmiss seine Zigarette zu Boden und trat kurz drauf, während er weiterlief und seinen Arm um Noahs Taille legte. „Tut mir leid, Hase. Ich zweifele ja gar nicht an dir. Es ist nur … manchmal überkommt es mich einfach. Du bist so wundervoll, du könntest jeden haben. Ich vertraue dir ja, aber du musst wissen … ich würde alles für dich tun. Du musst es nur sagen. Wenn du nichts sagst, kriege ich Angst, dass du Frust schiebst.“

„Du musst nicht eifersüchtig sein. Nicht auf so einen ungeschliffenen Teenager.“

„Ich war auch mal ein ungeschliffener Teenager und das hast du geliebt.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken. Das ist überflüssig.“ Auch er legte den Arm um ihn und zog ihn an sich, küsste seine Schläfe. „Ich werde dich nicht austauschen. Nicht in meinem Leben und auch nicht in meinem Kopf. Du hast keinen Grund zu so plötzlichen Eifersuchtsanfällen.“

„Ich weiß. Tut mir auch leid. Das war dumm.“

„Wenn du hören willst, dass ich dich liebe und dich begehre, dann sag es einfach.“

„Liebst und begehrst du mich noch?“

„Mehr als du dir vorstellen kannst, mein Süßer“ lächelte er und küsste seine Nasenspitze. „Du warst jetzt aber schon ziemlich lange nicht mehr eifersüchtig. Wir machen Fortschritte.“

„Ja, nicht wahr? Bist du stolz auf mich?“ Er schämte sich noch etwas für seine abwegigen Gedanken, die eigentlich gar kein echtes Ziel verfolgten. Manchmal musste er nur einfach mal wieder zeigen, dass er noch da war und seinen Noah nicht teilen wollte. Mit niemandem.

„Und wie stolz ich bin, Häschen.“ Er kam seinen Lippen näher, aber gab ihm nur eine sanfte Berührung. Mit gesenkter Stimme setzte er aber leise hinzu: „Aber das mit der Erinnerungshilfe heute Nacht habe ich ganz ernst gemeint.“

„Ah ja, so ist das also“ schmunzelte Mokuba und küsste ihn kurz zurück. „Okay, als Entschuldigung darfst du dir was von mir wünschen. Was immer es sei.“

„Oh, ein Blankoscheck? Du bist aber mutig.“

„Ich vertraue dir eben, Hase.“ Und an dem Ding mit der Eifersucht arbeitete er weiterhin. War ja auch fies, ihn aus dem Nichts mit solchen Sachen zu überfallen. Da hatte er sich etwas Wunsch-Sex doch verdient.



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